Serie: 70 Jahre Kriegsende im Landkreis, Folge 3:Sirenengeheul und Schokoriegel

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Hans Kastenmüller erlebte als Dreijähriger den Einmarsch der Amerikaner in Aßling. Er erinnert sich an dunkle Abende im Keller und die Ankunft der ersten Flüchtlinge

Von Michael Haas, Aßling

Plötzlich sind sie da, die Panzer und Wagen, die Soldaten, die in einer fremden Sprache reden. Hans Kastenmüller hat Angst - wie jeder im Dorf. Sie haben es ja schon eine Weile vorher gehört: Die Amerikaner sind in Grafing angekommen und nun auch auf dem Weg nach Aßling. Rasch ist eine weiße Fahne beschafft und ein Mann ausgewählt, der den Amerikanern entgegengehen und stellvertretend für den gesamten Ort kapitulieren sollte. Das Vorhaben gelingt: Am 2. Mai 1945 ist der Zweite Weltkrieg in Aßling friedlich beendet.

Die amerikanischen Soldaten durchkämmen die Häuser und Wohnungen, der dreijährige Hans Kastenmüller und seine Familie müssen aus ihrem Haus ausziehen. Teilweise haben die Soldaten beim Durchsuchen auch Gegenstände aus den Wohnungen mitgenommen, erinnert sich Kastenmüller heute, 70 Jahre später. Er und seine Familie aber haben Glück: Bei ihrer Rückkehr ist noch alles da, die Wertgegenstände liegen an ihrem Platz.

Vorübergehend ziehen Kastenmüllers zu einer Tante einige Straßen weiter. Die Stimmung in der Bevölkerung sei nach der Befreiung gut gewesen, erinnert sich Kastenmüller. Spuren der Kriegsjahre gab es nur wenige, einzig der Bahnhof und einige Wohnungen in der Nähe waren durch Bomben beschädigt worden. Viele Einwohner in der Gemeinde waren Bauern, die Verpflegung deshalb relativ gesichert. "Es hat jeder was zum Leben gehabt", sagt Kastenmüller. Nach und nach sei auch das Vertrauen in die amerikanischen Soldaten gewachsen. Viele Erinnerungen an sie hat Kastenmüller zwar nicht mehr, aber eine Begegnung weiß er noch genau: Seine Familie war gerade bei der Tante eingezogen und stand vor dem Haus, als ein amerikanischer Soldat vorbeikam. "Der hat mich dann auf den Arm genommen." Und ein Stück Schokolade hatte der fremde Mann in der Uniform für den Dreijährigen auch dabei.

Mitten hinein in die Freude über das Kriegsende und die Normalisierung des Alltags platzt ein verheerendes Zugunglück. Am 16. Juli 1945 kollidiert kurz nach Aßling ein Güterzug mit einem anderen Zug, in dem mehr als 1000 ehemalige deutsche Kriegsgefangene Richtung München fahren. Wegen eines Defekts an der Lok und eines Übermittlungsfehlers kommt es zum Zusammenstoß. Mehr als 100 Menschen sterben. Es ist bis heute eines der schwersten Eisenbahnunglücke in der deutschen Geschichte, in Oberelkofen erinnert seit mehr als 50 Jahren ein Friedhof daran.

In Aßling wurden der Bahnhof und einige Wohnungen durch Bomben beschädigt. Hans Kastenmüller wurde später Bürgermeister der Gemeinde. (Foto: Christian End)

So hatte der Zweite Weltkrieg nach seinem Ende doch noch eine tiefe Spur in der Gemeinde hinterlassen, die sonst vor allem über das Radio etwas von den Kämpfen und Zerstörungen mitbekommen hatte. Und durch die Flugzeuge der Alliierten natürlich. "Mei, da sind die Sirenen gegangen, dann ist man in den Keller runter", erinnert sich der 74-Jährige. Er war damals noch nicht einmal vier Jahre alt, trotzdem hat er eine Szene noch bildlich vor Augen: wie die Sirene zu schrillen begann, wie die ganze Familie die Treppe hinabstieg und er sich im Keller auf einen Korb setzte und ausharrte. "Ich glaube, den habe ich heute noch", erzählt er.

Es waren Stunden, die bei dem Jungen Eindruck hinterließen. "Man musste verdunkeln und schauen, dass nachts nach außen kein Licht sichtbar war", sagt Kastenmüller. Die Fensterläden seien geschlossen und von innen nochmals versperrt worden. Schon der kleinste Lichtstrahl hätte Anlass für eine Bombardierung sein können, so dachte man damals. "Da hat man sehr aufgepasst." Wirklich gefährlich wurde für die Gemeinde aber erst das Näherrücken der Amerikaner 1945. Denn mit Bürgermeister Michael Rottmayr leitete ein Nationalsozialist das Aßlinger Rathaus. Und da pflegten die Alliierten nicht lange zu zögern. Auch deshalb wurde zur Kapitulation ein anderer vorausgeschickt. Kastenmüller sagt über Rottmayr: "Er stand zwar zum Regime, aber er hat zu den Leuten gehalten." So soll der Bürgermeister einst verhindert haben, dass ein Einwohner der Gemeinde in ein Konzentrationslager gebracht wurde. Wie hoch die Wertschätzung der Aßlinger für Michael Rottmayr war, zeigt sich Jahre später: In den 1960er Jahren wurde er erneut zum Bürgermeister gewählt. "Jeder wusste: Der ist anständig", erzählt Kastenmüller, der fast sechzig Jahre später ebenfalls Bürgermeister von Aßling wurde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm zunächst Leonhard Ampletzer die Leitung der Gemeinde. Der Krämer war schon zuvor von besonderer Bedeutung für die Aßlinger gewesen: Im heutigen Rathaus betrieb er ein großes Lebensmittelgeschäft. Dort verkaufte er nicht nur Eier und Brot, sondern auch Medikamente. Kastenmüller erinnert sich noch gut, wie er dort mit Lebensmittelmarken bezahlte und wie schwer einige Einkäufe waren. "Manche Dinge gab es einfach nicht. Einen Faden zum Beispiel", erzählt er. Sieben Krämereien gab es damals in Aßling, nur eine hatte Garn. "Aber der Krämer hat meine Mutter weggeschickt", sagt Kastenmüller - sie war nicht bei dem Laden registriert, also durfte sie dort auch nichts kaufen.

Eine Postkarte unbestimmten Datums (Foto: privat)

Doch es gab Alternativen, um zumindest an Lebensmittel zu kommen. "Die, die ärmer waren und keinen Garten hatten, sind bei den Bauern hamstern gegangen", erzählt Kastenmüller. Seine Familie habe das wohl auch mal gemacht, fügt er hinzu. Sicher ist er sich da aber nicht mehr. Dafür sind ihm die gemeinsamen Radtouren mit seiner Mutter nach Grafing in Erinnerung geblieben. "Die Straße war voller Schlaglöcher - aber da gab's halt viel zu kaufen. Das war sehr beliebt im Ort."

1947 kamen dann die ersten Flüchtlinge nach Aßling, die meisten aus dem Sudetenland. "Alles war sehr beengt, aber sie haben sich gut integriert", erinnert sich Kastenmüller. Viele der Flüchtlinge waren schließlich selbst Bauern und konnten den Einheimischen auf ihren Höfen helfen. Und auch die Politik tat einiges für die Integration der Neuen: Der damalige dritte Bürgermeister wurde zum "Wohnungsbürgermeister" ernannt, er suchte neue Unterkünfte für die Flüchtlinge. Allen war das freilich nicht recht und so gab es auch immer wieder die verschiedensten Versuche, die Pflicht zu umgehen, Flüchtlinge unterzubringen. "Manche haben einfach den Boden aus Zimmern rausgerissen oder eine Baustelle eingerichtet, damit sie niemanden aufnehmen müssen", erzählt Kastenmüller.

70 Jahre später sitzt er an einem Tisch in seinem Haus und erzählt, wie er als Bub die Rinde von Holzstämmen abschabte und verheizte, weil Kohle zu teuer war. Und wie er mit dem Fahrrad zum Milchholen fuhr und auf dem Rückweg immer die Hälfte verschüttete. Immer wieder schüttelt Hans Kastenmüller ungläubig den Kopf. "Vieles kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen", sagt er. Eine leichte Zeit sei es nicht gewesen, weder während des Kriegs noch danach. Kastenmüller schweigt kurz und atmet dann langsam aus: "Aber es ist alles vorbeigegangen."

© SZ vom 09.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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