Rundgang:Leitlinien zur Orientierung

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Bei der ersten Ortsbegehung für Blinde in Zorneding zeigt sich, worauf es bei der Barrierefreiheit ankommt. Der Bahnhof jedenfalls, so die einhellige Meinung, verdient diese Auszeichnung sicher nicht

Von Viktoria Spinrad, Zorneding

Offiziell ist der Zornedinger Bahnhof barrierefrei. Ralph Zimmerhansl benötigt nur wenige Schritte auf Zornedinger Boden, bis sich das als fern von seiner Realität entpuppt. "Ohne Leitlinien auf dem Boden würde ich noch nicht einmal die Treppe zum Ausgang finden", sagt der 53-Jährige, den Blindenstock in der rechten Hand und am linken Arm eine Begleiterin, die ihn leitet. Damit sich blinde Menschen wie der Verkehrsraumgestalter vom Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund (BBSB) langfristig auch ohne Geleitschutz sicher ihren Weg durch Zorneding bahnen können, hatte die Gemeinde auf Anregung ihres Behindertenbeauftragten zu der ersten Ortsbegehung für Sehbehinderte geladen. An dessen Schluss bleibt für Bürgermeister Piet Mayr (CSU) ein klarer Auftrag: Leitlinien und Kanten, an denen sich sehbehinderte Menschen orientieren können - und diese in Einklang mit den Bedürfnissen von Rollstuhlfahrern bringen. "Das ist nicht immer einfach", konstatiert Johannes Voit, der Landesverkehrsbeauftragte des BBSB.

Als Paradebeispiel dafür dient der Abzweig von der Ringstraße in die Birkenstraße. Dort gibt es zwar eine Verkehrsinsel und einen abgesenkten Bordstein. Wie aber soll ein sehbehinderter Mensch den Weg in Richtung Ortsmitte schaffen, ohne sich in Lebensgefahr zu begeben? "Am besten wäre eine Ampel mit akustischem Grün. Die könnte man auf Abruf schalten", schlägt Voit vor. "Wenn ich sie denn finde", wirft Zimmerhansl ein. Also: mehr Leitlinien. Und: Bloß keine breitflächige Null-Absenkungen bis auf die Straßenhöhe, wie sie Rollstuhlfahrer brauchen. "Wir brauchen Bordsteinkanten zur Orientierung", so Zimmerhansl.

Bereits bei einer Ortsbegehung Anfang vergangenen Jahres stellte der Blinden- und Sehbehindertenverband am Zornedinger Bahnhof erhebliche Mängel fest. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Wie sich das mit den Bedürfnissen von Menschen im Rollstuhl an Überquerungen vereinbaren lässt, beschreibt Voit so: Eine Ampel mit akustischem Grün, links davon eine Absenkung für Rollstuhlfahrer, die Blinde mit einer Bodenmarkierung vor dem Überqueren an dieser Stelle warnt. Rechts davon die Querung für Sehbehinderte, eben mit Bordsteinkante, die sich mit dem Blindenstock ertasten lässt: Also eine sogenannte getrennte Querung. "Da gewinnen alle", sagt Voit. Und, an Mayr gewandt: "Der Platz wäre da."

Manchmal ist aber nicht genug Platz da. Um die Vorgaben der bayerischen Bauordnung trotzdem einzuhalten, können die Gemeinden dann eine Kompromiss-Querung bauen: eine Kante mit drei Zentimetern, über die sich Rollstuhlfahrer wuppen und die Menschen mit Sehbehinderungen trotzdem ertasten sollen. "Das ist im Grunde ein fauler Kompromiss", sagt Voit.

Intelligente Lösungen wären auch am Herzogplatz gefragt. Für Blinde gleicht er einer Wüste ohne Fixpunkte zur Orientierung. "Einfach geradeaus laufen: Das ist das schwierigste für uns", sagt Zimmerhansl. Nicht nur Leitlinien würden Sehgeschädigten die Orientierung erleichtern, sondern auch farbliche Kontraste statt "grauem Einheitsbrei", erklärt Voit. An Mayr gewandt schlägt er eine Neugestaltung vor, "es gibt auch Fördergelder".

Mit einer Spezialbrille testete Bürgermeister Piet Mayr, mit welchen Barrieren Sehbehinderte kämpfen. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Aber auch auf dem Weg zur Barrierefreiheit gibt es Barrieren. Mayr erklärt den Gästen, dass eine Neugestaltung schon seit Jahren Thema ist - und sich eine Gemeinde wie Zorneding, die mit mehreren Millionen im Plus liegt, kaum Hoffnungen auf Fördergelder machen dürfte. "Wir brauchen pragmatische Lösungen", sagt der Bürgermeister nach der Begehung im Rathaus. Zum Beispiel in Verbindung mit dem laufenden Glasfaserausbau. Weil die Gehwege dafür sowieso aufgerissen werden, sollen viele von ihnen gleich saniert und die Bushaltestellen barrierefrei gestaltet werden. "Wir haben extra den Etat verdoppelt", sagt Mayr. Seit zwei Jahren sind Leitlinien für Blinde in den Bauvorgaben inbegriffen, auch die mindestens sechs blinden Zornedinger würden also profitieren.

Dann kommt der Behindertenbeauftragte der Gemeinde nochmal auf den Bahnhof zu sprechen. "Wenn sich nichts tut, müsste man ihm zumindest den Titel 'barrierefrei' aberkennen", sagt Gregor Schlicksbier. "Es ist schwierig mit der Deutschen Bahn", seufzt Mayr. Zimmerhansl klinkt sich wieder bei seiner Begleiterin ein, es geht zurück zum Bahnhof.

© SZ vom 23.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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