Ruhestand:Erneuter Seitenwechsel

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Nach 58 Jahren verlässt Werner Dresel das Isar-Amper-Klinikum in Haar. Der 78-Jährige erlebte als Pflegedirektor und als Patientenfürsprecher den Wandel der Psychiatrie

Von Bernhard Lohr, Haar

Als am 1. April 1960 der Zug am Haarer Bahnhof anhielt, wunderte sich Werner Dresel schon, wo er gelandet war. Der Bahnsteig war zu kurz für den langen Zug. Und der 19-jährige Mann aus Wanne-Eickel stand vor der Entscheidung, einfach weiterzufahren oder zu springen. Er wagte mit seinem Koffer den Satz aufs Gleisbett. Für den Jungen aus dem Ruhrpott war es der Sprung in ein neues Leben. Er begann, als Pfleger im damaligen Nervenkrankenhaus Haar zu arbeiten. Später erlebte er auch als Pflegedirektor und als Patientenfürsprecher am heutigen Isar-Amper-Klinikum den Wandel der Psychiatrie. In dieser Woche wurde er nach 58 Jahren von der Klinik und vom Bezirk verabschiedet. Ende 2018 ist offiziell Schluss.

Seine 78 Jahre sieht man Werner Dresel beim Treffen in der Bibliothek des Klinikums nicht an. Wer den seriös wirkenden Mann mit sauber gekämmtem grauen Haar in schwarzem Sakko und modischer Jeans begegnet, ahnt auch nicht, was er alles gesehen und erlebt hat.

In den Sechzigerjahren war die Klinik eine Welt für sich, ein abgeschotteter Raum. Frauen und Männer waren auf getrennten Stationen untergebracht. Die Betten standen in Sälen. Schwestern versorgten die Frauen, Pfleger arbeiteten auf den Männer-Stationen und wurden an Sonntagen schon mal angehalten, mit Schlips zu erscheinen. Die Zwangsjacke war bis Ende der Sechzigerjahre ein Mittel der Wahl, um Tobende in den Griff zu bekommen. Dafür waren Psychiatrie-Patienten, die wegen Gefährdung der Öffentlichkeit gerichtlich eingewiesen worden waren, auf Stationen verteilt. Über allem stand der Anstaltsdirektor. "Der hat regiert", sagt Dresel über den früheren Chef Christof Schulz.

Was rückblickend wenig einladend klingt, schreckte den jungen Werner Dresel nicht. Er habe sich in Haar vom ersten Moment an wohlgefühlt, sagt er. Hier lernte er noch in der Ausbildung seine spätere Frau, die ebenfalls in der Klinik arbeitete, kennen. Dabei hatte alles danach ausgesehen, dass der Junge aus Wanne-Eickel wie sein Vater einmal unter Tage arbeiten würde. Dresel machte eine Ausbildung zum Bergmann in der Kohlezeche Shamrock und schuftete 1000 Meter unter der Erde. "Immer noch besser als Straßenarbeiter." So hieß das damals, denn immerhin war es warm dort unten. Doch schon Ende der Fünfzigerjahre habe seine Familie erkannt, dass der Bergbau keine Zukunft mehr habe. Auf eine Zeitungs-Annonce hin, dass in Haar für die Psychiatrie Pfleger gesucht würden, begab sich der Sohn auf den Weg Richtung Süden.

Dort machte Dresel in der Pflege Karriere. Nach drei Jahren Ausbildung und einer Fortbildung an einer Fachschule in Stuttgart nahm ihn der Ärztliche Direktor unter seine Fittiche und ernannte ihn, wie Dresel sagt, zu seinem "Adjudanten". 1974 wurde Dresel Oberpfleger und bald Pflegevorsteher. Die Pflegekräfte in der Psychiatrie hatten damals einen Sonderstatus und waren Dresel zufolge verbeamtet, weil sie in der Forensik hoheitliche Aufgaben verrichteten. Auch wenn der Jargon manchmal militärisch war, gab es erste Schritte einer Liberalisierung. Seit 1967 wurden Frauen- und Männerbereiche schrittweise zusammengelegt. Pfleger und Schwestern arbeiteten mehr und mehr zusammen. Plötzlich seien auf der Station Blumen am Tisch gestanden. "Ein ganz anderes Milieu" habe sich entwickelt. Die Therapieansätze änderten sich langsam.

Plötzlich standen Blumen auf den Tischen: "Ein ganz anderes Milieu."

Werner Dresel erzählt leise und unverstellt über diese Dinge. Ruhe, sagt er, sei wichtig in dem Job. "Man darf nicht mit rumspinnen", sagt er über Situationen, in denen er mit Patienten in Ausnahmezuständen zu tun hatte. Auch bedroht sei er mal worden, sagt er, ohne weiter darauf einzugehen. Es sei ja nichts passiert. Es gab bedrückende Erlebnisse, etwa wenn ein Arzt eine Elektroschock-Therapie einsetzte. Das sei, als würde man einen epileptischen Anfall künstlich auslösen, beschreibt das Dresel. Auch erzählt er von einem Todesfall, weil es bei solch einem Einsatz bei einem Patienten zum Herzstillstand gekommen sei. Der Arzt habe sich selbst angezeigt, die Sache sei eingestellt worden. Mittlerweile werden solche Therapien selten angewandt.

Wie bei vielen Beschäftigten in dem medizinischen Großbetrieb in Haar gingen bei Dresel Berufs- und Privatleben ineinander über. Und die Familie lebt bis heute am Lindenplatz in einem ehemals zur Klinik gehörenden Gebäude. Die Dresels zogen dort ihre Kinder auf.

1984 wurde im Klinikum die sogenannte Gewaltenteilung eingeführt: Dem bis dato alleine herrschenden Ärztlichen Direktor wurde ein Verwaltungsdirektor zur Seite gestellt wurde - und Dresel komplettierte als leitender Pflegedienstvorsteher das Dreier-Gremium an der Spitze. Allerdings nur mit halbem Mandat bei Abstimmungen. Seit 1998 agiert die Pflege mit ärztlichem Korps und Verwaltung auf Augenhöhe. Heute gilt auf Stationen das Prinzip der "Dualen Führung". Die Stationsleitung hat eine Pflegekraft inne, und die arbeitet mit einem Oberarzt zusammen. Vieles habe sich verbessert, sagt Dresel, was Therapieansätze angeht. Ärzte, Therapeuten, Pflegekräfte arbeiteten im Team zusammen. Gemeinsam suche man Lösungen.

Jeder einzelne ist heute anders gefordert. "Man muss auch lernen können", sagt Dresel, der seine eigenen Strategien entwickelt hat, um mit Belastungen in der Klinik umzugehen. Er spielte früher viel Tennis und liebt es, bei der Gartenarbeit abzuschalten. Seine ruhige Art, die er jetzt an den Tag legt, die habe sich entwickelt, sagt er. "Es ist besser man redet darüber." Es war wohl diese offene, aufrichtige Art, die Dresel beruflich immer half. Als er in den Ruhestand ging, saß Hugo Lidl oft bei ihm im Garten. Den damaligen Patientenfürsprecher trieb etwas um, aber Dresel wusste nicht gleich was. Bis der ihn fragte, ob er, Dresel, nicht sein Amt übernehmen wolle. Er wäre der Richtige dafür.

2004 wechselte er die Seiten. Der Patientenfürsprecher ist vom Bezirk jeweils für zwei Jahre bestellt und muss unabhängig von der Klinik sein. Er vertritt Interessen von Patienten und muss sich, wenn notwendig, gegen Ärzte und Pfleger stellen. Die Patienten sehen sich oft in existenziellen Nöten, wenn sie Dresel rufen. Manche hätten bei der Einlieferung Angst, was mit ihnen passiere, sagt er. Manche misstrauten den Medikamenten und manche den Ärzten. Er spreche das so schnell wie möglich mit allen offen an, sagt er. Der Umgang mit Menschen in schwierigen Situationen hat dem heute 78-Jährigen seine Zuversicht nicht geraubt. "Wenn ich nicht so alt wäre", sagt er, "dann würde ich das weitermachen."

© SZ vom 15.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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