Rathauskonzert Vaterstetten:Ein Teil ihres Lebens

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Geigerin Tianwa Yang und Pianist Nicholas Rimmer haben vier Jahre an ihrem Programm zwischen Verzweiflung und Versöhnung gearbeitet. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Geigerin Tianwa Yang und Pianist Nicholas Rimmer zeigen mit ihrem Programm zur Erinnerung an das Kriegsende 1918, was "live" bedeutet

Von Ulrich Pfaffenberger, Vaterstetten

Kopfschuss an der Front. Ein junges Leben ausgelöscht. Voller Begeisterung war der junge Künstler seiner vaterländischen Pflicht gefolgt und in den Krieg gezogen. Ein Jahr später ist er tot. Gedanken, Ideen, Können - zerstört. Doch sein Werk lebt. Mit Rudi Stephans "Groteske" haben die Geigerin Tianwa Yang und der Pianist Nicholas Rimmer das Rathauskonzert Vaterstetten am Sonntagabend eröffnet, das dem Gedenken an das Ende des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren gewidmet war.

Die Komposition mag damals grotesk erschienen sein, weil sie leidenschaftlich und kraftvoll mit Hörgewohnheiten brach. Heute gleicht sie mehr bruchstückhaft, impressionistisch übermittelten Bildern aus der Gemütslage einer Gesellschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts - und was diese im Komponisten auslösen. Bei den schwebenden Schleiern der Schlusstakte leuchten Yang und Rimmer in die Seele Stephans hinein und lassen sie zittern und leuchten zugleich. Wem jetzt nicht das Herz im Hals schlägt, wer jetzt nicht Trauer über den Tod dieses und unzähliger anderer Menschen empfindet, für den ist nicht nur diese Musik verloren.

Vier Jahre haben die beiden Musiker an einem Programm gearbeitet, das die ritualisierten Melodien überwindet, die für einen Volkstrauertag und die Erinnerung an einen Krieg angemessen erscheinen. Man merkt es der Dramaturgie der Abfolge genauso an wie der Spielweise und der Interpretation dessen, was zwischen den Notenzeilen notiert ist: Drei Mal an diesem Abend lassen Yang und Rimmer, in der Bewegung erstarrend, den Schlussakkord eine schiere Ewigkeit lang ausklingen, bis sich auch das letzte Klangmolekül in der Ewigkeit aufgelöst hat. Sekunde reiht sich an Sekunde, bis das Publikum die Kraft und den Mut findet, auf die Stille mit Applaus zu antworten.

Bei Janáceks Violinsonate JW VII/7 zum Beispiel ist das so. Je feiner und leiser dort ein Ton erschien, um sich ins Universum zu verlieren, desto inniger die Verbindung zwischen Yang und ihrem Instrument. So viel Sorgfalt und Liebe dort, wo Kunstfertigkeit allein keine Antwort anbietet - das erlebt man selten. Es ist die vollkommene Verschmelzung von Geigerin, Geige und Melodie, getragen von einem Pianisten, der sie in seinen Händen birgt wie einen kostbaren Schatz. Die Art und Weise, wie Rimmer das ihm anvertraute Gut durch Höhen und Tiefen trägt, durch Verdichtung und Auflösung, durch Schlichtheit und Komplexität, macht erkennbar, dass die beiden ihr Programm nicht nur vier Jahre lang ersonnen und geprobt haben. Sie haben es zu einem Teil ihres Lebens gemacht.

Eines Lebens, das nicht nur Nachdenklichkeit kennt, sondern auch Momente der Freude, Leidenschaft, Begeisterung, die den Kontrast zu Leid, Schmerz und Verzweiflung umso drastischer machen.

Bei Karol Syzmanowskis Nocturne und Tarantella leuchtet es hell und einladend aus den Fenstern einer abendlichen Stadt. Yang und Rimmer geben dem Spiel um die Gefühle großen Raum, mal geprägt vom schattenhaften Dunkel, mal vom gleißenden Schein. Schwindelerregende Figuren bei der Tarantella, eine überwältigende Körperlichkeit der Intonation, aufgelöst in feingliedrigen Phrasen, zelebriert in technischer Präzision im Nano-Bereich. Sie liefern damit musikalische Artistik, die das Publikum liebt und zunächst in Raunen, dann in Jubelrufe ausbrechen lässt. Aber sie betreiben die Artistik nicht um ihrer selbst willen. Die Art, wie sie sich den Melodien hingeben, lässt nie vergessen, dass diese Musik für sie eine persönliche Angelegenheit ist zwischen künstlerischer Lebendigkeit und gewaltsamem Tod.

Ein Kunststück ist Yangs Interpretation von Eugèn Ysayes Solo-Sonate "L'Aurore". Es scheint so, als flögen ihr die Gedanken aus einem unlängst geführten Gespräch mit dem Komponisten zu, die sie dann in freier Interpretation in Klänge verwandelt. Das ist spannend, das ist aufregend, das ist etwas, das sich nur live erleben lässt. Das gilt auch dafür, wie sich Rimmer Enrique Granados' "El Amor y la Muerte" annimmt: plastisch, gedankenerfüllt, fantasievoll - jedes Attribut trifft es, aber keines für sich allein. Ein ganzes Drama kondensiert in einem Stück. Als die beiden dann zum Schluss wieder zusammenfinden in Debussys Sonate g-Moll, schenken sie dem Publikum die verlockende Vorstellung, zu was bildende Kunst in den Händen eines Komponisten werden kann: berührbar in der Unendlichkeit der Form.

Die Wissenschaft sagt, dass wir nur ein Prozent dessen hören können, was theoretisch hörbar ist. Dieses Konzert von Yang und Rimmer macht Hoffnung, dass es irgendwann auch einmal zwei Prozent sein können.

© SZ vom 20.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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