Prozess in Ebersberg:Plötzlich ausgerastet

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Eine junge Frau attackiert eine Mitfahrerin in der S-Bahn. Nun muss ein Gutachter klären, ob sie verurteilt werden kann

Von Wieland Bögel, Ebersberg

Auf den ersten Blick klingt der Vorfall, der sich im vergangenen Herbst in einer S-Bahn Richtung Ebersberg zutrug, zwar unangenehm, aber nicht völlig ungewöhnlich: Es kommt zu einer Schlägerei zwischen zwei Fahrgästen, eine der Personen ist dabei erheblich betrunken. Nun, ein paar Monate später, muss sie sich dafür vor Gericht verantworten. Dabei jedoch stellte sich heraus, dass die ganze Sache deutlich komplizierter ist.

Auf der Anklagebank saß eine junge Frau. Die 23-Jährige soll nach Ansicht der Staatsanwaltschaft im vergangenen Oktober auf eine andere S-Bahn-Passagierin losgegangen sein. Erst habe sie die Frau bespuckt, als diese die Angeklagte abwehren wollte, sei sie von ihr ins Gesicht geschlagen, an den Haaren gezogen und unter anderem als "Schlampe" tituliert worden. Der Schlag war offenbar ziemlich heftig, laut Anklageschrift wurde bei der Geschädigten ein Schleudertrauma diagnostiziert.

Die Angeklagte bestritt vor Gericht die Vorwürfe nicht, räumte sie aber auch nicht ein. Sie könne sich nämlich an besagten Nachmittag nur bruchstückhaft erinnern, etwa, dass sie beim Aussteigen bereits von der Polizei erwartet wurde. Von der Fahrt mit der S-Bahn wisse sie dagegen so gut wie nichts mehr. Was daran liege, dass sie an dem Tag schwer betrunken gewesen sei. Nach eigenen Angaben habe sie eine Flasche Cognac geleert, zudem stand sie unter dem Einfluss von Medikamenten. Zum Zeitpunkt der Tat nahm sie zwei verschiedene Antidepressiva ein, laut ihrem Anwalt können beide im Zusammenwirken mit Alkohol zu erheblichen Bewusstseinsstörungen führen.

"Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich das gemacht habe", sagt die Angeklagte

Könne es denn sein, dass die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft zutreffen, wollte Richterin Vera Hörauf von der Angeklagten wissen. "Dass ich gegenüber Menschen, die ich nicht kenne, handgreiflich werde, ist schwer vorzustellen", entgegnete diese, "ich kann mir nicht vorstellen, dass ich das gemacht habe."

Was aber möglicherweise mit der gesundheitlichen Situation der jungen Frau zusammenhängt, wie ihr Verteidiger erläuterte, der sie bereits seit Jahren kennt. Im Gespräch wirke sie genau wie nun im Gerichtssaal überhaupt nicht aggressiv. Allerdings hat sie schon eine Reihe von Vorstrafen, aktuell steht sie unter offener Bewährung. Was zum einen mit dem Alkoholproblem der Angeklagten zusammenhängt, das aber nur der Gipfel eines Berges an psychischen Problemen zu sein scheint. Vor drei Jahren war die junge Frau offenbar Zeugin in einem Mordfall, galt sogar zeitweise als Verdächtige. Außerdem leidet sie unter Depressionen und in einem aktuelleren Attest wurde ihr auch eine Borderline-Störung diagnostiziert. Derzeit ist sie freiwillig in einer geschlossenen Einrichtung wegen ihres Alkoholismus.

Möglicherweise war die 23-Jährige während der Tat nicht schuldfähig

Diese Diagnose, besonders der Bereich Borderline - eine Krankheit, die sich unter anderem in Gewalt gegen sich und anderen äußert - könne bedeuten, dass die Angeklagte vermindert oder gar nicht schuldfähig ist, gab der Staatsanwalt zu bedenken. Mit der Folge, dass am Ende kein Urteil, sondern ein Einweisungsbeschluss steht. Um dies zu klären, müsste die Angeklagte aber zunächst von einem Experten begutachtet werden. Die Staatsanwaltschaft regte an, die Verhandlung so lange auszusetzen, bis ein solches Gutachten erstellt werden könne.

Dem folgte das Gericht, "es ist das Sauberste, ein Gutachten machen zu lassen", so die Vorsitzende. Auch die Angeklagte erklärte sich damit einverstanden, sich begutachten zu lassen.

© SZ vom 25.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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