Offene Werkstatt:Genius im Baumwollkittel

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Am kommenden Wochenende öffnen Mitglieder der Gruppe "Kunst-Stoff" in Poing, Anzing, Markt Schwaben und Parsdorf ihre Ateliers

Von Rita Baedeker, Anzing

Der Stoff, aus dem die Kunst ist, hat unendlich viele Eigenschaften und Erscheinungsformen. Für den Anzinger Peter Böhm ist der "Austrieb" genannte Überschuss, der bei der Herstellung von Gummiteilen anfällt, Basis und Inspiration für seine "vulc-art" genannten Bilder. Das unter hohem Druck kochend heiß durch winzige Öffnungen in der Gussform herausgepresste Material erstarrt beim Erkalten zu bizarren Gebilden, zu Spaghettihaufen, Schläuchen, Würsten. Man fühlt sich, je nachdem in welche Richtung sich die Phantasie bewegt, bei den Materieklumpen mal an Innereien erinnert, mal an die Körperteile der Aliens, jenen unheimlichen Wesen aus einer fremden Welt in einem mehrteiligen Science fiction-Horror.

Die Zufallsobjekte aus Gummi bilden den Ausgangspunkt der späteren Bilder. Wenn die quellende Masse in dem Restebehälter erkaltet und erstarrt ist, bestreicht Böhm den auf diese Weise zufällig entstandenen Druckstock mit Farbe und fertigt davon Drucke auf Postkartengröße. Davon macht er Fotos, projiziert diese auf einen Malgrund, zeichnet die Umrisse des Motivs nach, dann malt er das Bild. "Mich fasziniert diese Art zu arbeiten, weil das eine Technik ist, die es sonst nirgendwo gibt, und weil die dabei entstehenden Strukturen die Phantasie anregen", sagt Böhm.

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(Foto: Peter-Hinz-Rosin)

Atelier-Impressionen: Im ehemaligen Salzkramerhaus in Anzing präsentiert Peter Böhm Gummi, den Grundstoff seiner Bilder.

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(Foto: Peter-Hinz-Rosin)

Siegfried Horst malt am liebsten im Malerkittel der Impressionisten, einem Stoff, der den Geist beflügelt.

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(Foto: Peter-Hinz-Rosin)

Für Brigitte Stanke sind zarte Stoffe der schönste Kunst-Stoff.

An den Rohstoff für seine Kunst kam er vor 15 Jahren durch seinen Job bei Stahlgruber in Poing. Eine weitere Metamorphose offenbaren die fertigen Bilder. Die Motive haben sich von ihrer natürlich-technischen Herkunft, ihrem Charakter als industrieller Rohstoff gelöst und die Formensprache von Tuschemalerei, Kalligrafie und Minimal Art erobert. "Dabei wird so gut wie nichts verändert", sagt Böhm. "Die Bilder sind zwar gemalt, aber abgesehen von der Farbe dennoch reproduzierbar wie ein Druck." Sein Anzinger Atelier, in dem das historische "Salzkramerhaus" und bis etwa 1971 ein "Tante-Emma-Laden" beheimatet war, ist mit Bildern voll gestellt.

Zart und transparent ist dagegen der Stoff, aus dem die Arbeiten von Brigitte Stanke gemacht sind. Es ist Stoff im Wortsinn, Stoff, der am Körper anliegt, ihn verhüllt, formt, schützt, schöner macht. Im Treppenaufgang zum ersten Stock des Hauses, in dem Stanke und der Maler Siegfried Horst leben, trifft man auf einen blauen Baldachin, darunter - wie die Verheißung einer märchenhaften Begebenheit - ein schlichtes blaues Kleid aus festem Papier. Der am Ärmelausschnitt drapierte Arm einer Puppe wirkt wie ein Postscriptum, das besagt, dass sich hinter den Objekten eine Geschichte verbirgt. Diese heißt zum Beispiel "Die neuen Kleider der Sulamith" oder "Gold- und Pechmarie". In einem Karton liegen winzig kleine Mieder aus Häkelwolle, Wachs und Papier. Bei Stanke versinnbildlichen Hüllen das, was unter die Haut geht - Gefühle und Sehnsüchte. "Ich habe mal als kleines Mädchen ein wunderschönes Pfingstkleid bekommen, das sehe ich immer noch vor mir", erzählt Stanke. Das ist ihre Geschichte.

Siegfried Horst, der im Erdgeschoss, im Keller und im zweiten Stock des Hauses seine Arbeiten zeigt, malt mit dicken Pinselstrichen und scharfen Konturen Gesichter, die sich trotz reduzierter Formensprache weit öffnen und den Betrachter in Bann ziehen. Es sind oft wenige Akzente, die dem jeweiligen Gesichtsausdruck besondere Qualität und Lebendigkeit verleihen. Schatten, Farbflecken, die Intensität des Blicks. Den Gegensatz zwischen Nacktheit und - gnädiger - Hülle beschreibt Siegfried Horst in einer Serie von Aquarellen. Die Plastik einer archaisch runden Frauengestalt und verschiedene Keramikfiguren, die unlängst bei einem Workshop in Polen entstanden sind, dienten ihm als Vorlage. Zum Beispiel die große, im Stil der Wende zum 20. Jahrhundert gekleidete Frauenfigur mit breitkrempigem blauen Hut. Auf einem seiner Aquarelle ist sie neben der nackten Dicken zu sehen. "Ich habe mir beim Malen gedacht: Was erzählen die sich bloß?", sagt Horst lachend.

Dass Kleider nicht nur Leute machen, sondern auch Maler - vielmehr: bessere Maler -, das hat Horst durch den Kauf eines braunen Baumwollkittels, wie ihn die französischen Impressionisten trugen, erfahren. "Seit ich den habe, kann ich besser malen!" Siegfried Horst, der an der Kunsthochschule Kassel studiert hat und Assistent von Arnold Bode, dem Gründer der documenta war, braucht für sein Genie zwar kein Kleidungsstück, dennoch fühle er sich darin wie beflügelt. Der Kittel ist eben aus einem besonderen Stoff: Kunst-Stoff.

© SZ vom 08.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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