Neues Erfolgsrezept:Lesen lernen: Die Ebersberger machen's vor

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Laut Pisa 2018 hat jeder fünfte 15-Jährige große Probleme beim Leseverständnis. Im Landkreis zeigen die Lesestrategietage, dass das auch anders geht.

Von Michaela Pelz

Donnerstagmorgen, acht Uhr. Wo sich andernorts die Schülerinnen und Schüler den letzten Schlaf aus den Augen reiben oder noch schnell die Mathehausaufgaben abschreiben, herrscht in der Grund- und Mittelschule Glonn fröhliche Betriebsamkeit. Offenbar freut sich nicht nur die Klasse 6 a richtiggehend darauf, an diesem Tag in den ersten zwei Schulstunden mit einer ganz bestimmten Methode einem Buchkapitel oder Sachtext auf den Grund zu gehen. Vorneweg sei verraten: Die neun Mädchen und sechs Buben werden das ganz fantastisch machen - wie, so ist zu hören, auch die anderen Schülerinnen und Schüler von der ersten bis zur zehnten Klasse des Schulamtsbezirks Ebersberg. Dort hat man sich nämlich seit 2018 eine ganz besondere Leseförderung für die Grund- und Mittelschulen auf die Fahne geschrieben, weswegen es landkreisweit ein- bis zweimal pro Schuljahr "Lesestrategietage" gibt.

Im Fokus steht dabei nicht die Motivation (die zweifelsohne auch wichtig ist), sondern die Fähigkeit, sich den Textinhalt zu erschließen. Wie die gerade veröffentlichten Ergebnisse der Pisa-Studie 2018 zeigen, haben 20 Prozent der 15-jährigen Deutschen "Schwierigkeiten, selbst grundlegende Anforderungen an das Leseverständnis zu bewältigen". Weil dafür das passende "Handwerkszeug" von entscheidender Bedeutung ist, haben Sandra Hiebl (stellvertretende Schulleitung der Grundschule Frauenneuharting und Lesebeauftragte für die Grundschulen) sowie ihre in der gleichen Funktion für die Mittelschulen zuständige Kollegin Judith Mathä (Konrektorin der Grund- und Mittelschule Glonn), ein neues Konzept entwickelt. Es nennt sich "Lesen mit Strategie" und beinhaltet mehrere Einzelschritte zum sinnerfassenden Lesen.

In höheren Jahrgangsstufen funktioniert das Kozept dann ganz von selbst

Entscheidend ist dabei die Systematik: Trainiert man die Methode häufig genug schon ab der Grundschule, geht sie den Kindern so in Fleisch und Blut über, dass sie sie in höheren Jahrgangsstufen selbständig anwenden können. "Das ist zeitaufwendig, aber es lohnt sich!", sagt Hiebl. Auch Literaturwissenschaftlerin Mathä, die über zwei Abschlüsse verfügt und vor ihrer Zeit als Lehrerin ein Ausbildungszentrum für die Integration und Qualifizierung arbeitsloser, junger Erwachsener leitete, kann gar nicht oft genug betonen: "Lesen ist so grundlegend, wir müssen es gerade an den Mittelschulen immer wieder in den Fokus stellen und Raum zum Üben schaffen." Wie das in der Praxis aussieht, zeigt sich beim Lesestrategietag in Glonn.

Auf ein Signal mit der Klangschale glaubt man, sich inmitten fleißiger Bienen zu befinden: Die ganze 6 a liest halblaut einen Text. Der ist allerdings nicht ganz normal angeordnet, vielmehr stehen die Wörter versetzt über- und untereinander, ganz so, als würden sie übermütig Treppenstufen hinauf- und hinunterhüpfen. Das trainiert den Blick, denn, wie Klassleiterin Judith Mathä erklärt: "Für das Lesen müssen die Augen schneller sein als der Mund." Dann erst ist der Sachtext dran, der heute im Mittelpunkt steht. Zunächst wird nur die Überschrift vorgelesen - und die Kinder müssen überlegen, worum es wohl gehen könnte. Als sie alles notieren sollen, was ihnen zu "Müllmenü" einfällt, flitzen manche Stifte nur so übers Papier.

Nach einer kurzen Diskussion mit dem Nachbarn werden die Ergebnisse gesammelt. Viele denken an Umweltverschmutzung im Meer, ein Kind führt an, dass Plastik, das von Fischen gefressen werde, so auch im menschlichen Körper lande. Ein Mädchen meint, es handele sich vielleicht um eine Geschichte von "Menschen, die auf der Straße leben und sich kein Essen leisten können außer Müll". Nun wird der Text ausgeteilt. Er handelt von der Verfassungsklage jener beiden Studentinnen, die wegen schweren Diebstahls (aus Supermarkt-Containern) verurteilt worden waren. Alle Kinder studieren das Blatt in hoch konzentrierter Stille, nur ein paar Füße in Ringelsocken wippen hin und her. Wann diese Einheit vorbei ist, bestimmt der langsamste Leser - man nimmt Rücksicht und wartet, ganz ohne jede Ablenkung.

Schwierige Wörter werden nochmals extra geklärt

Nachdem die wichtigsten im Artikel vorkommenden Themen aufgezählt sind, werden schwierige Wörter geklärt. Jedes Kind markiert per Fragezeichen, was es nicht verstanden hat, und begibt sich dann zum "Bus Stop". Dort, ganz vorne neben der Tür, bringt das Gespräch in Kleingruppen vielleicht schon die Lösung. Wenn nicht, hilft die Lehrerin weiter. Danach wandern Erklärungen und Synonyme ins "Fachbegriffe-Heft". Dieses wird das ganze Jahr über geführt, wodurch sich automatisch der Wortschatz erweitert. Die Schüler freuen sich zudem, dort bereits einmal Notiertes wiederzufinden und verlieren die Scheu, nachzufragen.

Nach der Unterteilung des Textes in Sinnabschnitte finden die Kinder passende Überschriften, mit denen sie Fragen zum Inhalt beantworten können. Zwischendurch geht es ab und an zum "Bus Stop". Und immer wieder wird der Inhalt diskutiert, wobei fast beiläufig zusätzlich politische Bildung stattfindet. Mathä erklärt: "Das Interesse an Zusammenhängen ist nicht an die Schulform gekoppelt. Man muss den Schülern etwas zutrauen, sie wollen mitreden können." Leander (11) drückt es so aus: "Wenn wir den Text nicht so spannend finden, bearbeiten wir ihn, und plötzlich erkennen wir, wie wichtig er für uns ist." Elisabeth wiederum hat ganz klar den praktischen Sinn erkannt: "Man macht die Strategien automatisch, dann helfen sie auch bei den Leseproben."

Lehrerin Barbara Emmerich hingegen freut sich, dass sich in ihrer 3 a durch die beiden Laut-Lese-Durchgänge der Methode sogar schwächere Leser nicht nur freiwillig melden, sondern auch erkennbar verbessern. Stolz ist sie auch auf die kunstvollen Bilder oder Comics, die zuweilen die Textzusammenfassung im "Lesebegleitheft" ergänzen oder ersetzen. In ihren bisher 25 Berufsjahren habe sie zwar immer schon in dieser Richtung gearbeitet, doch mache das auch optisch unterstützte Regelwerk (mit Fächern oder Lesezeichen) lehrkraftunabhängiger. "Die Kinder könnten es auch selbst tun."

Als großer Schritt zur eigenständigen Arbeit, anwendbar in allen Fächern, mit zahlreichen Möglichkeiten zur Differenzierung, wirkt dieses neue Ebersberger Konzept in der Tat außerordentlich durchdacht. Und nicht nur das Schulamt im Landkreis hat die Bedeutsamkeit der Strategien erkannt: Mathä und Hiebl haben ihr Konzept mittlerweile sämtlichen oberbayerischen Lesebeauftragten sowie am Lehrertag an der Universität Eichstätt vorgestellt. Wer weiß, vielleicht macht es ja Schule.

© SZ vom 07.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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