Kraftakt: Pfleger und Pflegerinnen im Porträt, Teil 4:Haare kämmen: 1,17 Euro

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Zwischen zehn und zwölf Patienten betreut Sabine Till jeden Tag. Oft hätte sie gern mehr Zeit, um auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Mit über 40 Jahren kündigte Sabine Till ihren kaufmännischen Job und begann eine Ausbildung zur Altenpflegerin. Doch um Zahlen und Gewinne gehe es auch hier, beklagt sie

Von Johanna Feckl, Grafing

Lange Zeit arbeitete Sabine Till im kaufmännischen Bereich. "Da ging es nur um Zahlen, Gewinne und Waren", erinnert sie sich. Je länger die heute 63-Jährige diese Arbeit machte, desto unzufriedener wurde sie. "Ich wollte wirklich einmal ...", beginnt sie zu erklären, unterbricht ihren Satz und überlegt kurz. "Ich wollte etwas Vernünftiges tun, etwas machen, wodurch man den Menschen etwas geben kann." Sabine Till betont das Wort "Menschen". "Dass man sich um kranke und alte Menschen kümmert, das zeichnet eine Gesellschaft doch aus!" Für sie ist das auch ein christliches Motiv, Nächstenliebe. Klar funktioniere die moderne Welt auch nicht, ohne Waren von A nach B zu schieben. Aber Till wollte einen Beruf, bei dem sich der humanitäre Gedanke deutlicher abzeichnet, als es in ihrem Kauffrauenberuf der Fall war. Mit mehr als 40 Jahren entschloss sie sich deshalb, noch einmal von vorne zu beginnen: Sie gab ihre bisherige Anstellung auf und wurde wieder Lehrling, dieses Mal jedoch in der Altenpflege.

Nach ihrer Ausbildung vor 17 Jahren wechselte Till vom Heim in die ambulante Altenpflege bei der Ebersberger Caritas. Seitdem ist sie eine "Tourenschwester", wie sie selbst sagt. Das bedeutet, dass sie den größten Teil ihrer Arbeitszeit im Außendienst verbringt, also mit dem Auto zu den Patienten und Patientinnen nach Hause fährt, die alle mit ihrem jeweiligen Pflegebedarf in Tills dienstlichem Mobiltelefon registriert sind. Ein Blick auf ihr Handy verrät Till vor jeder Haustür, was zu erledigen ist. Meistens ist dieser Blick für die 63-Jährige aber gar nicht notwendig, da die Ebersberger Caritas auf das Prinzip der Bezugspflege setzt. Das bedeutet, dass jede Pflegekraft für einen fixen Patientenkreis zuständig ist. Till gefällt dieser Grundsatz, denn dadurch kennt sie all ihre Patienten sehr genau. Im ambulanten Pflegebereich gibt es auch noch das Rotationsprinzip. Dort kümmert sich diejenige Pflegekraft um einen Patienten, die aktuell im Dienst ist.

Während ihrer Touren kommt Sabine Till manchmal in das Grafinger Büro der Caritas, um am Computer die Patientendokumentationen auf den laufenden Stand zu bringen. "Das ist wie eine Pflegeakte, so wie es auch eine Krankenakte gibt", erklärt sie. Dort ist die Diagnose dokumentiert, ob der- oder diejenige Kinder oder andere Angehörige hat, ob Sturzgefahr oder sonstige Risiken bestehen. Eine solche Dokumentation ist vor allem dann hilfreich, wenn eine Pflegekraft krankheits- oder urlaubsbedingt ausfällt und jemand anderes einspringen muss. "Die Dokumentation ist ein Stressfaktor für uns", sagt Till. Natürlich sei das genaue Zusammentragen der Patientenbelange sinnvoll, "aber uns fehlt eigentlich die Zeit dafür".

Ein Arbeitstag von Sabine Till beginnt um sieben Uhr morgens und endet um 13 Uhr. Insgesamt betreut sie zwischen zehn und zwölf Patienten, die meisten davon täglich. Sechs Stunden also für die Pflege - und dabei ist die Anfahrtszeit noch gar nicht berücksichtigt. Bleibt da noch Zeit, um sich auch einmal mit den Patienten zu unterhalten? "Man ist mit der Pflege so routiniert, dass man so etwas währenddessen und ganz automatisch macht", sagt Till. Einen Zeitpuffer, um sich auch einmal fünf Minuten zusätzlich zu den Patienten setzen können, um mit ihnen zu plaudern, gebe es allerdings nicht.

"Das war früher anders", sagt Till. Früher, damit meint Sabine Till die Zeit ihrer ersten Berufsjahre als examinierte Altenpflegerin. "Damals hatten wir noch mehr Zeit, wir haben uns immer auf die Bedürfnisse der Menschen eingestellt." Und heute? "Letztlich geht es um Geld." Der Gedanke, dass es die Pflicht der Gesellschaft ist, Bedürftigen zu helfen - den habe die Politik durch die Pflegereformen der vergangenen Jahre vertrieben, so Till. "Mittlerweile wird bei uns in der ambulanten Pflege jeder Posten einzeln mit einem bestimmten Kostenbetrag berechnet", erklärt sie. Haare kämmen: 1,17 Euro. An- und Ausziehen: 2,93 Euro. Das alles sind gesetzliche Vorgaben, an die jeder Arbeitgeber gebunden ist.

Das Problem dabei ist, dass der individuelle Hilfsbedarf nicht berücksichtigt wird. Beispiel Toilettengang: "Da ist jemand im Rollstuhl, den muss man in den Raum mit dem WC fahren, aus dem Rollstuhl hochhieven, auf die Toilette hinauf, abputzen, und dann alles wieder zurück", zählt Till auf. Das alles dauert unterschiedlich lang, je nachdem ob der Pflegebedürftige groß oder klein, schwer oder leicht ist. Abrechnen dürfen Till und ihre Kolleginnen und Kollegen aber immer nur denselben Betrag. Nämlich 5,86 Euro.

"Das macht mich fassungslos!" Sabine Till schüttelt den Kopf. "Wenn ich bei jemandem 30 Minuten für die Pflege benötige, dann sollte ich auch 30 Minuten zu einem vernünftigen Stundensatz abrechnen dürfen!" Das aber ist bei dem aktuellen Abrechnungssystem in der ambulanten Pflege nicht möglich. "Pflege darf nicht wie eine Handwerksleistung berechnet werden", sagt Till. Letztlich sei aber genau das der Fall geworden. Das Kaufmännische, das Sabine Till vor vielen Jahren hinter sich gelassen hat, hat die 63-Jährige schneller wieder eingeholt, als ihr lieb ist. "Da hat die Politik etwas falsch gemacht." Und warum bleibt Till trotzdem ihrem Beruf treu? "Ich stehe kurz vor der Rente." Sie lacht. Bitterkeit schwingt darin. "Wenn ich jetzt 40 Jahre alt wäre, dann könnte ich mir schon vorstellen, den Beruf noch einmal zu wechseln. Ziemlich sicher sogar."

© SZ vom 04.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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