Konzert in Glonn:Wenn im Tanz die Tränen trocknen

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Odessa früher und heute: Die "Lifve Chords" geben ein Benefizkonzert zugunsten der Ukraine im Glonner Marktblick. (Foto: Christian Endt)

Das Projekt "144 Stunden in Odessa 1942" verbindet Vergangenheit und Gegenwart mit Worten, Melodien und Bildern: Rayka Emmé und die "Lifve Chords" erzählen im Marktblick die Geschichte einer tragischen Liebe.

Von Ulrich Pfaffenberger

Warum nennen wir einen Ort "Kriegsschauplatz"? Keiner ist nur zum Schauen dort. Menschen treffen aufeinander, manche im Kampf, manche im Leid, manche in Verzweiflung und, allen Widrigkeiten zum Trotz, manche in Liebe. Von dem, was geschieht, bleibt das meiste im Verborgenen, also ungesehen. Vieles davon wäre es wert, weitererzählt, geteilt zu werden. Doch selbst die größten Suchmaschinen unserer Zeit verlaufen sich im Nichts. Für unsere Welt sind jene "144 Stunden in Odessa 1942" nichts - für Rayka Emmé sind sie alles.

Denn in diesen 144 Stunden haben zwei junge Menschen, einer davon Emmés Mutter, mitten im Krieg eine aufflammende Liebe zueinander entdeckt. Ingrid Lasberg, die Sängerin im Front-Tournee-Theater, Günther Thoma, der Marinesoldat und Betreuer der Unterhaltungstruppe am Ort, entdecken in kurzer Zeit viel Gemeinsames. Aus ihrer Musik und seinem Beruf als Fotograf sprudelt eine Quelle gemeinsamer Begeisterung und öffnen sich Zugänge, um die inspirierenden Seiten der Stadt am Schwarzen Meer auf sich wirken zu lassen. Dann geht die Tournee weiter, die beiden schreiben sich zwei Jahre lang, bis im März 1944 ein Feldpostbrief an Ingrid zurückkommt: "Empfänger vermisst oder gefallen".

An diesem Abend treffen schmerzliche Aktualität und kleines Glück aufeinander

Eine Geschichte, zeitlos in ihrer Botschaft, gleichwohl - nicht nur wegen des Ortes - von schmerzlicher Aktualität, wie Rayka Emmé am Samstagabend im Glonner Marktblick feststellt. Wieder ist Krieg in der Ukraine, wieder werden einander verbundene Menschen durch Gewalt getrennt. Dass die Sängerin dennoch, zusammen mit dem Ensemble Lifve Chords aus Bad Aibling, die Collage aus Erzählung, Musik, Fotos und Malerei auf die Bühne bringt, soll nicht über diesen Umstand hinwegtäuschen. Es soll aber auch das kleine Glück, die Liebe spürbar machen, die vor 80 Jahren zwei Menschen für 144 Stunden erfüllte.

Was die knapp zwei Dutzend Gäste im neuen "Salettl" des Cafés an diesem Abend erleben, lässt sich auch sonst in keine Schublade einordnen. Es beginnt mit der Musik, die einen weiten Bogen schlägt von zeitgenössischen Titeln wie Zarah Leanders "Waldemar" und "Kann denn Liebe Sünde sein?" oder Josephine Bakers "Bye, bye, Blackbird" bis zu einer munteren Melange aus Blues, Tanzsalon und Chanson der 50er und 60er Jahre. Da sind aber auch eigene Kompositionen, deren Melodien vor allem Bassist Nikolaus Stigloher und Multi-Instrumentalistin Sabine "Xoxi" Huber beisteuern, und deren oft nachdenkliche, sehr poetische Texte Rayka Emmé selbst verfasst hat. Damit löst sie die zeitliche Distanz zum Geschehen, die ursprüngliche Fremdheit gegenüber den handelnden Personen vollkommen auf: Es ist wie beim Blättern durchs Familienalbum, bei dem Gegenwärtiges und Vergangenes sich so ausführlich in Gedanken zusammenfinden, dass der physische Tod überwunden ist und die Seele des Erlebten zutage tritt.

Menschen in Uniform, Frauen in Abendkleidern, Konzerte im Salon: Bilder verstärken die Botschaften

Die Botschaften sind umso stärker, als sie von Bildern begleitet werden. Bilder, wie sie manche von uns aus eigener Erinnerung kennen: Menschen in Uniform, Frauen in Abendkleidern, Konzerte im Salon. Bildern, in denen die schwarz-weiß-grauen Schattierungen den Blick auf die Gesichter fokussieren, Kleidung und Möbel in den Hintergrund rücken lassen. Dazu kommen Aquarelle und Zeichnungen, mit denen Emmé und Stigloher gekonnt jene Lücken schließen, die Flucht und Zeit gerissen haben - und denen der Verlauf der Geschichte weitere hinzufügen könnte. Frühlingshaft verlockend, so wie die beiden Liebenden sie damals wohl wahrgenommen haben, erscheint da die Potemkinsche-Treppe in Odessa, einst Kulisse für Sergej Eisensteins Stummfilm "Panzerkreuzer Potemkin", heute Wahrzeichen einer Stadt mit ungewisser Zukunft. Die dichte Atmosphäre der Erzählung lebt von den unvermittelten, überraschenden Ereignissen und Begebenheiten, von denen die Autorin - es gibt auch Buch und Hörbuch zum Thema - berichtet. Mit kurzen, spontanen Einwürfen, manchmal auch mit Sätzen, die in Gedanken ausklingen, nicht in Satzzeichen.

Auch die musikalische Geschlossenheit des Ensembles trägt nachhaltig dazu bei, dass die Neugier auf die nächsten Melodien und Klangfarben anhält. Sabine Huber, überwiegend am Piano, zeitweise am Saxofon, zweimal auch, Hommage an Günter Thoma, am Akkordeon und immer wieder als berührende zweite Gesangsstimme, wird dabei zum Echo der Geschichte und zur Schwester der Lead-Sängerin. Schlagzeuger Giuseppe Watzlawick gehört zu den ruhigeren Vertretern seiner Zunft, einer, bei dem Rhythmus mehr Herzschlag als Hammerschlag ist und der mit dem Besen zaubert, nicht kehrt. Einer der im passenden Moment zum meditativen Saxofon greift und Ecken und Kanten zu Wellen umformt. Seine ausgeprägte Leidenschaft für die Chimes sei ihm darob nachgesehen. Michael Lackner, der mit sicherem Griff zu E- und Akustikgitarre der jeweiligen Stimmung zuverlässig jene Dimension hinzufügt, in der sich Fröhlichkeit und Schmerz begegnen, in der im Tanz die Tränen trocknen. Tränen, die an diesem Abend irgendwann einmal an jedem Tisch geflossen sind.

Die Zugaben kommen diesmal nicht von der Bühne, sondern aus den Portemonnaies des Publikums

Am Ende des Konzerts schallt langer und herzerwärmender Applaus durch den Raum. 600 Euro Hilfe für ukrainische Kinder kommen zusammen, durch Eintritt, gespendeten Wein vom Marktblick-Hauswinzer Johann Hild an der Mosel, durch Verzicht auf Gage sowie durch Zugaben, die diesmal zu Recht nicht von der Bühne kommen, sondern aus den Portemonnaies des Publikums und des Wirts.

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