Interviews im Alten Kino:Gesichter und Geschichten

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Roland Kühnlein und Susanna Weber-Kühnlein arbeiten beide gerne mit der Kamera und spielen Theater. Deswegen haben sie den „Welt-Raum“ mit Fotos und Sketchen bereichert. (Foto: Veranstalter)

Menschen aus dem Landkreis geben im Gespräch ganz persönliche Einblicke in ihr Jahr 2020

Von Anja Blum, Ebersberg

Andere kennenlernen, offener Austausch, gemeinsames Weiterdenken: Das waren ursprünglich die Ziele des neuen Theaterprojektes "Welt-Raum" im Alten Kino Ebersberg. Doch regelmäßige Treffen waren im Frühjahr nicht möglich, also dachten sich die Verantwortlichen etwas anderes aus: Einzelinterviews, alle im gleichen Setting auf der Bühne, mit den selben Fragen. Außerdem ersann das Team einen Trick, um trotz der Distanz Nähe zwischen herzustellen: Alle Interviewgäste bekamen den Auftrag, ein Objekt ihrer Wahl mitzubringen. Etwas, das ihn oder sie in der Corona-Zeit begleitet oder symbolisch für diese außergewöhnliche Zeit steht.

Dieses Objekt "wanderte" dann jeweils in das nächste Interview, dessen Gast dazu befragt wurde. "Gibt es Assoziationen? Emotionen? Welche Bedeutung könnte das Objekt für die andere Person haben? Sehen Sie einen Zusammenhang zu Corona? Zu Ihrer eigenen Lebenssituation? Welche Person stellen Sie sich dahinter vor?" Am Ende wurde dieses Geheimnis gelüftet - mit der Bitte, dem Objektgeber nun noch eine eigene Frage zu stellen. So konnten die Menschen über ihre Gegenstände in Kontakt treten, ohne sich persönlich zu begegnen. Und dank der neuen Publikation zum Welt-Raum können nun auch alle anderen die Interviewten kennenlernen und ihre Kommunikation auf Abstand verfolgen.

Die erste im Welt-Raum war Bärbel Körner, eine agile Rentnerin aus Ebersberg. Sie gehört zwar zur Risikogruppe, lässt sich davon aber persönlich nicht einschränken, denn die 77-Jährige sucht gerne neue Herausforderungen. Im Lockdown etwa habe sie ihren Kindern und Enkeln Essen vor die Tür gestellt - nicht anders herum. Im Gegenzug habe die Familie sie öfter angerufen als sonst, dadurch fühlte sich Körner aufgehoben und angenommen. Insofern ist ihr Objekt eine Kerze - mit "Meine Mama ist die Beste" drauf.

Abdullah Osman hat seinen ständigen Begleiter mitgebracht: ein Aufnahme-Mikrofon. Der Sport fällt weg, man darf niemanden treffen - was bleibt da noch? Lernen und Musik hören! Auf dem Mikro hat Osman viele Erinnerungen gespeichert, arabische Lieder etwa und Songs von Udo Lindenberg. Der 20-Jährige ist in Eritrea geboren, im Sudan aufgewachsen und lebt seit vier Jahren in Deutschland. Aktuell wohnt er in Glonn und macht eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. Apropos Mikro: Osman singt gerne, ist aber von der Tauglichkeit seiner Stimme nicht ganz überzeugt. Vor allem will er mit seinem Gesang die Nachbarn nicht zu stören, denn ein harmonisches Zusammenleben ist für ihn sehr wichtig.

Gelernter Schmied, studierter Künstler und praktizierender Grafiker: Andreas Mitterer hat das Da-Vinci-Problem: "Ich kann alles, aber nix g'scheid!" Dafür wird dem Ebersberger nie langweilig. Den Lockdown vergleicht Mitterer übrigens mit einem Urlaub: Wenn sich die Lebensumstände, das Klima und die Umgebung verändern, nimmt man eine andere Perspektive ein. "Andere Zeit, anderes Gefühl - das war eine gute Voraussetzung für eine neue künstlerische Arbeit", sagt der 51-Jährige. Er begann, mit Tusche auf Pappe zu arbeiten, es entstand die Corona-Serie "Erregas". Kein Wunder also, dass Mitterer als Objekt ein Tuschefass wählt.

Der nächste Kandidat stellt sich als "Tanzbär" vor, Erzieher aus Glonn. Schon als Kind hat Stefan Blieninger sich um seine Schwester mit Behinderung gekümmert und so gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Mitgebracht hat er Windeln, denn seit April ist Tanzbärs Hauptaufgabe das Wickeln. Dabei war die Zeit rund um die Geburt alles andere als normal: Erst durfte er nicht mit in den Kreißsaal, danach konnte er vieles nicht mit anderen teilen. Das habe ein gewisses Gefühl der Isolation hinterlassen. Von Tanja Hafner, die ebenfalls interviewt wurde, nach der Quelle seiner Zuversicht gefragt, nennt der 31-Jährige das Lächeln seiner Tochter. "Klingt kitschig, ist aber wahr."

Tanja Hafner aus Grafing hat etwas ziemlich Altmodisches mitgebracht: einen Kassettenrekorder, denn der stehe für den ersten Schockmoment im Frühjahr. Da fühlte sich die Sozialpädagogin, als sei ihr Leben angehalten worden, als ob jemand die Stopp-Taste gedrückt habe. Dadurch ist der 51-Jährigen umso mehr bewusst geworden, wie fragil die Situation ist - seither sei sie deutlich leiser, wolle mehr im Hier und Jetzt leben. Bildungsungleichheit macht Hafner aber immer noch ziemlich wütend.

Viivi Fleischer ist viel unterwegs, sitzt nicht gerne still. Eine Quarantäne im Ebersberger Elternhaus ist daher für die 20-Jährige besonders herausfordernd. Dazu passt auch ihr Mitbringsel: eine Bahn-Card. Eigentlich hatte Fleischer viele Pläne, ein Auslandssemester in England, eine Reise nach Brasilien. Die Alternative: mit dem Zug viele Freunde und Verwandte besuchen, vom Tegernsee bis Hamburg - und der Road-Trip wird zur positiven Überraschung, denn die Studentin erlebt, "wie vielseitig unser schönes Deutschland ist". Sogar auf Sylt war sie, obwohl man sich das ja eigentlich "fürs hohe Alter aufhebt...".

Aliou Diallo wird im Mai positiv getestet, was ihm zunächst große Angst einjagt. Der 20-Jährige kommt aus Guinea, wohnt seit etwa drei Jahren in Ebersberg und arbeitet als Pflegefachhelfer-Azubi. Als er sich infiziert, muss er in Quarantäne, aber: "Alles hat auch immer eine gute Seite" - und so verbringt er die Zeit vor allem mit Lesen. Seine Lieblingslektüre hat er denn auch für den Welt-Raum ausgesucht: Das Buch "Der lange Weg zum Wasser" von Linda Sue Park erzählt von der wahren Reise eines Jungen aus dem Südsudan, der über Libyen und Italien nach Deutschland kommt. Diallo sagt, die Geschichte sei zu 80 Prozent seine eigene. Ob er irgendwann wieder zurück wolle nach Guinea, fragt ihn Nadja Reyes, die nächste Kandidatin. Die Antwort ist eindeutig: Nein, weil es nur in Deutschland Sicherheit und Freiheit gebe.

Die Kubanerin Nadiezka Rodriguez Reyes, genannt Nadja, lebt seit 15 Jahren in Deutschland. Die 45-Jährige wohnt in Eglharting und arbeitet als Köchin, gehört aber seit Beginn eines Integrationstheaterprojekts sozusagen zum Inventar des Alten Kinos. Reyes war schon als Kind musik- und theaterinteressiert, liebt es, auf der Bühne zu stehen. Sie ist ein Mensch, der gerne "laut ist, lacht, singt und tanzt". Im Gegensatz zu Kuba, wo etwa elf Personen in einem Haushalt leben, empfindet die 45-Jährige das Zuhause-Sein im Landkreis etwas einsam. Deswegen zieht es sie immer wieder ins Freie. "Ich musste einfach raus, einfach Fahrrad fahren, ohne Mundschutz, da war ich frei." Deswegen bereichert sie den Welt-Raum um eine Zeichnung von einem Fahrrad.

Weil Reyes aber ein Herrenrad gemalt hat, führt das Bild Susanna Weber-Kühnlein und Roland Kühnlein auf eine falsche Fährte. Allerdings erraten sie, dass die Person ausländische Wurzeln hat, dunkelhäutig ist und gut tanzen kann. Außerdem stößt der Wusch nach Freiheit, den das Rad ausdrückt, bei dem Paar auf viel Verständnis - trotz aller Gegensätzlichkeit: Die beiden Ebersberger, 60 und 64 Jahre alt, gehen viel zu Fuß, denn die Heilpädagogik-Helferin und der Kartograf sind gehörlos. Deshalb wurden die Interviews mit ihnen schriftlich geführt. Besonders spannend ist, dass Roland Kühnlein sich als Objekt einen Mundschutz ausgesucht hat - und wie er das begründet: "Durch die Maske benutzen die Menschen Gestik, wenn sie mich ansprechen wollen. Das ist ein guter Anfang für die Kommunikation zwischen Hörenden und Tauben."

Fest steht: Diese Interviewgäste haben ihre ganz eigenen Geschichten aus dem Jahr 2020 zu erzählen. Ihre Perspektiven zeichnen ein Abbild der vielfältigen Gemeinschaft im Landkreis. Man darf sich also freuen auf den Film, den Valentin Winhart aus den Gesprächen gestaltet hat: sicher ein so spannendes wie rührendes und lustiges Zeitdokument.

© SZ vom 17.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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