Hohenlinden:Da helfen keine Pillen

Lesezeit: 3 min

Nach mehr als drei Jahrzehnten will Uwe Scheerschmidt seine Apotheke übergeben - doch er findet keinen Nachfolger

Von Korbinian Eisenberger, Hohenlinden

In der Apotheke riecht es manchmal nach strengen und herben Sachen. "Es sind jene Düfte, die dem guten, alten Apotheker langsam zu Kopf steigen", so hat das der Schriftsteller Kurt Tucholsky einmal ausgedrückt. Uwe Scheerschmidt hat Tucholskys Gedicht in seiner Apotheke an der Wand hängen. 40 Jahre lang hat der Hohenlindener Dorfapotheker Substanzen zusammengemixt, er kennt den Duft, er hat ihn aufgenommen, und "aufgepasst wie ein Haftelmacher", sagt er. Aber es ist ja nicht nur die Laborarbeit, die einen als Apotheker schlaucht.

Uwe Scheerschmidt, will aufhören, nach 32 Jahren will er seine Apotheke in Hohenlinden übergeben. Der 65-Jährige sucht einen Nachfolger - für seine Apotheke, und für sein Amt als Sprecher der Apotheker im Landkreis Ebersberg. Genau das ist jedoch das Problem. "Ich finde keinen", sagt Scheerschmidt. Wie viele seiner Kollegen hat er mit einem Phänomen zu kämpfen, für das es bisher keine Lösung zu geben scheint: Wer auf dem Land einen Apotheker sucht, der sucht lange.

90 Prozent sind Stammkunden

Die Geschichte von Uwe Scheerschmidt hilft zu verstehen, warum es den Apotheker-Nachwuchs in die großen Städte zieht, und nicht in ländliche Gemeinden. In die Forst-Apotheke im Zentrum der 3000-Einwohner-Gemeinde Hohenlinden kommen vor allem Einheimische, 90 Prozent sind Stammkunden. Die Tür geht mit einem Klingeln auf, und man sieht einen Mann, mit leicht ergrauten Haaren, die Brille hängt um den Hals, oft hat er einen Kugelschreiber in der Hand.

Uwe Scheerschmidt greift dann hinter sich ins Regal, zieht Schachteln aus Schubladen, füllt Rezepte aus, erklärt, warum das Packerl auf einmal die Farbe gewechselt hat, die Wirkung aber die gleiche ist. Die Leute, die wieder aus der Forst-Apotheke herauskommen, sind meistens zufrieden. Der Forst-Apotheker, der schaut schon, dass nix Verkehrtes ins heimische Medizinschrankerl kommt.

Es schaut immer ganz nett aus, aber wie bei vielen Berufen bekommen die Kunden nur einen Bruchteil der eigentlichen Arbeit mit. Scheerschmidt hat den Tresen an seine Assistentin übergeben, Marlene Dörfler, die schon hier arbeitete, als er noch studierte. Die 60-Jährige kümmert sich um die nächsten Kunden.

Im Nachtdienstzimmer steht ein Kanapee

Hinter dem Tresen öffnet sich das Herz der Apotheke, das Labor mit den Plexiglas-Wänden, damit nichts nach vorne in den Laden spritzt, damit die Kunden ihre Heiltränke nicht auf die Schuhe bekommen. Dahinter hat Scheerschmidt sein Nachtdienstzimmer, mit dem Kühlschrank mit den Impfstoffen - und dem Kanapee.

Diese Nachtdienste. Scheerschmidt fährt sich durchs Haar, legt die Stirn in Falten. Alle neun Tage ist er dran, das heißt 40 Nachtdienste im Jahr. "Manchmal stehen finstere Gestalten vor der Tür", sagt er, manchmal muss er selbst ins Auto steigen und die Ware zum Kunden liefern. Es kam schon vor, dass dann niemand auf ihn wartete. Wenn Scheerschmidt Pech hat, ist er an Weihnachten dran, so wie im vergangenen Jahr, als er wie so oft mitten in der Nacht aufgeweckt wurde.

An Weihnachten 2015 weiß er: So geht es nicht weiter

An diesem zweiten Weihnachtsfeiertag 2015 musste er sich plötzlich setzen. Er merkte, dass sein Blutdruck anstieg, spürte, wie er hyperventilierte, schaffte es noch, eine Kollegin zu finden, die seinen Dienst spontan übernahm. Kurz darauf kam der Krankenwagen. Es folgte eine Herz-Operation, nach einigen Wochen nahm Uwe Scheerschmidt wieder seinen Platz hinter dem Apotheker-Tresen ein. Doch sein Arzt hatte ihm eine Botschaft mitgegeben: Stress sei fortan wie Gift für seinen Körper.

"Da habe ich mich fürs Aufhören entschieden", sagt Scheerschmidt. Das sagt sich so leicht. Der Apotheker fährt mit dem Finger über seine alte Waage, die noch in den Siebzigern und Achtzigern in Gebraucht war. All die Erinnerungen. Man durfte die Gewichte nur mit Handschuhen anfassen, "das Hautfett der Finger hätte das Gewicht verändert". Mittlerweile verwendet er elektronische Analysewagen, wie die meisten Apotheker. Nur dass nicht sicher ist, wie lange sie in der Forst-Apotheke noch gebraucht werden. Und wer von Dezember an den weißen Laborkittel anzieht, der hinter der Bürotür hängt.

Noch hat sich kein Nachfolger gefunden

Scheerschmidt hat viel versucht, er hat bei Großhändlern aus der Pharmaindustrie nach Kandidaten gesucht, hat in Fachzeitschriften inseriert und seine Kontakte als Landkreis-Sprecher genutzt. Geholfen hat es bisher nicht. "Ich kann nur hoffen, dass sich noch wer finden lässt", sagt er. Hohenlinden braucht eine Apotheke, gerade jetzt, wo bald ein Heim für seniorengerechtes Wohnen aufmacht. Gerade in Zeiten, in denen nachts Notfälle eintreten und die Wege dann möglichst kurz sein sollen.

Scheerschmidt dürfte noch jahrelang weitermachen, rein rechtlich gesehen. Anders als für Ärzte gibt es bei Apothekern keine Altersgrenze für Nachtdienste. Scheerschmidt hat sich entschieden, er wird weiter Dienste schieben, aber nur noch bis zum 30. November, sagt er.

Wenn er im Oktober mit seiner Frau nach Bernried am Chiemsee umzieht, wird er in seinen letzten beiden Apotheker-Monaten auf der Couch im Nachtdienstzimmer übernachten, sein Haus, gleich nebenan wird dann verkauft sein. Irgendwann wird er Tucholskys Apotheken-Gedicht von der Wand abhängen und in eine Umzugskiste packen. Es bleiben drei Monate, um für die Forst-Apotheke einen neuen Apotheker zu finden.

© SZ vom 29.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: