Zeitzeugen-Serie, Folge 6:Die Angst vor dem Untergang

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Mit Furcht und Hoffnung erwarteten die Grafinger am 1. Mai 1945 die Ankunft der amerikanischen Truppen

Von Valerie Schönian, Grafing

Mathilde Bauer war 13 Jahre, als sie Angst hatte zu sterben. Sie stand mit ihrer Schwester im Metzgerladen in Grafing, nicht weit von ihrem Zuhause. Dann hörte sie die Explosionen, drehte sich um, sah panische Menschen aus dem Gebäude am Grafinger Bahnhof laufen. Keine Sirenen waren zu hören. Die Bomben kamen trotzdem von oben. Mathilde Bauer rannte. Rannte hinaus, versteckte sich, rannte zurück zu ihrer Schwester, rannte nach Hause, und versteckte sich mit ihrer Familie. Um 15 Uhr war alles vorbei. "Es gab Mittagessen wie immer", erinnerte sich Mathilde Bauer später. Es war der 21. April 1945. Der Tag des schwersten Luftangriffs der Alliierten auf Grafing.

Mathilde Bauer ist mittlerweile gestorben. Doch ihre Erlebnisse hat sie festgehalten, in einem Erinnerungsprotokoll. Es sind solche Quellen von Zeitzeugen, die 70 Jahre nach Kriegsende ermöglichen, eine Idee davon zu bekommen, was im Mai 1945 passierte. Einige dieser Zeitzeugen-Protokolle hat Bernhard Schäfer bei einem Vortrag im Grafinger Stadtmuseum zusammengetragen. Er stellt sie in Verbindung zu geheimen Berichten aus der NS-Zeit, zu Zeitungsartikeln, zu Flyern, die damals über Grafing abgeworfen wurden. So versucht der Archiv- und Museumsleiter anlässlich des 70. Jahrestag, ein Bild des Grafing in den letzten Kriegs- und ersten Befreiungstagen zu entwerfen.

Das Bild, das Bernhard Schäfer herausarbeitet, ist das eines kriegsmüden Grafing im April 1945. Daran, dass die Deutschen siegten, glaubte fast niemand mehr. Auf die Amerikaner wurde beinahe gewartet. Nur wusste keiner, was das bedeutet: Wird es eine Befreiung für die Stadt sein - oder ihr Untergang? Die Menschen warteten. Die meisten Männer waren an der Front, überall in der Stadt waren Zwangsarbeiter und Flüchtlinge von der Ostfront. Die Menschen versteckten sich, wenn wieder ein Luftangriff kam. Über der Stadt lag eine Geräuschkulisse aus Sirenen und Geschützdonner. Gut gegessen hatte schon lang keiner mehr.

Der 1. Mai 1945 war ein Dienstag. Der Tag, an dem die Amerikaner kamen. Gegen 17 Uhr standen sie am Ortsrand des Grafinger Marktes. Die Stadt wurde kampflos übergeben. Dieser Moment wird heute, 70 Jahre nach Kriegsende, als Moment der Befreiung gefeiert. Doch für die Menschen in Grafing war das 1945 nicht sicher. Die Amerikaner besetzten zum Teil ihre Häuser, tranken ihren Wein, sie vergewaltigten auch ihre Frauen. Der Druck der Kriegszeit löste sich zwar, doch keiner wusste, was als nächstes passiert.

Stadtarchivar Bernhard Schäfer bei seinem Vortrag. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Bernhard Schäfer wirft einige der Zeitdokumente an die Wand: ein Foto mit dem Häusern am Grafinger Marktplatz, aus deren Fenstern weiße Fahnen hängen. Als Zeichen der Ergebung. Ein Flyer der Alliierten, der über Lügen der Nazi-Führer aufklären sollte. Eine Zeitung der Grafinger neuen Nachrichten, die am 10. Mai von den Alliierten eingestellt wurde. Ihr letzter Leitartikel war mit dem Titel überschrieben "Frieden". "Der Vortrag hat viele Geschichten noch mal aus dem Hinterkopf geholt", sagt Hans Binder. Der 51-Jährige kommt aus Grafing und wohnt mittlerweile in Bruck. An den Krieg zu erinnern, findet er wichtig. "Würden die Menschen sich alle bewusst machen, was damals passiert ist, hätten Parteien wie die NPD viel weniger Zulauf."

Eine Geschichte, die für Hans Binder neu war, ist die von Hans Buchner. Er war ein hoher SS-Offizier - und rettete Menschen. Er betrieb eine Gärtnerei in Krakau, in der er Juden beschäftigte, die schon deportiert werden sollten. In Grafing hatte er den gleichen Betrieb, in dem er Zwangsarbeiter aus dem Osten einstellte. Er hatte außerdem eine polnische Jüdin als Hausmädchen. Die gab er als christlich-orthodoxe Ukrainerin aus, wodurch sie überlebte. Die Amerikaner wollten Hans Buchner in Grafing erschießen. Er stand schon an der Wand, hatte seine Augenbinde um. Seine vermeintlichen Zwangsarbeiter stellten sich schützend vor ihm - weil er ihnen das Leben rettete. Jetzt retteten sie seines.

Hans Buchner ist 1974 gestorben. Doch seine Familie ist zu Schäfers Vortrag in das Grafinger Stadtmuseum, um noch einmal Buchners Geschichte zu hören: seine Urenkel, seine Enkel - seine zwei Söhne. Ulrich und Hans Michael Buchner. Sie waren 1945 drei und zehn Jahre alt. Hans Michael Buchner ist extra aus Ingolstadt angereist. "Wir wollten unserem Vater auch hier die Ehre erbieten", sagt er. Er erinnerte sich an das Ende des Krieges. An das jüdische Hausmädchen. An die Bomben. An den Bombensplitter, der über die Köpfe seiner Familie hinwegfegte und in einem Bild an ihrer Wand landete. Hans Michael Buchner war damals ein Kind. Sein Kommen zeigt: Der Krieg ist erst 70 Jahre her. Das ist nicht einmal ein ganzes Leben.

© SZ vom 19.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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