Um zu zeigen, was er tut, hat Hugo Kroiss, 55 Jahre alt, Filmemacher und Fotograf, hager, ganz in schwarz gekleidet, eine kleine gelbe Blechdose mitgebracht. Darin sind Speicherchips, darauf Aufnahmen von Interviews. 25 Menschen, 13 Stunden Material. Kroiss arbeitet gerade an einem Film über die Werkstatt Seelen-Art in Haar, wo Menschen mit einer psychischen Erkrankung malen und zeichnen. Für seinen Film sprach Kroiss mit Künstlern, aber auch mit Förderern der Einrichtung - mit den Wellküren etwa, drei Kabarettistinnen, und mit Josef Mederer , dem Bezirkstagspräsidenten von der CSU. "Raw Vision" nennt Kroiss den Film - weil für ihn etwas Rohes, Unverfälschtes und Abstraktes in den Kunstwerken von psychisch Erkrankten stecke.
An diesem Vormittag im September sitzt Kroiss auf der Terrasse vor der Kunstwerkstatt, raucht Zigarette. "Meine Finger sind schon gelb", sagt er. Während der Dreharbeiten habe er noch mehr geraucht als sonst. Vor ihm steht ein blaue Tabakdose, eine Kaffeetasse, ein Notizbuch. Auf dem Display seiner Kamera, so klein, dass man sie leicht in einer Hand halten kann, zeigt er Rohmaterial: einen Mann, der sich auf einem Dreirad ein Holzhaus mit grünen Fensterläden baute, der darin wohnt, der in der Seelen-Art-Werkstatt oft kocht, manchmal malt. Einen anderen Mann, diesmal auf einem roten Sofa mit einer Leinwand in der Hand, der sagt, dass es für ihn bei dem Projekt darum gehe, raus aus dieser Ecke zwischen Mitleid und Stigmatisierung zu kommen, in der er gefangen sei. Tatsächlich wolle er genau das mit dem Film bezwecken, sagt Kroiss. Im Vordergrund soll nicht die Erkrankung und all das Düstere, was hinter den Menschen liegt, stehen, sondern wie sie weitermachen und was sie schaffen.
Beauftragt hat den Filmemacher Matthias Riedel, der Leiter des Bereichs Kultur im Sozialpsychiatrischen Zentrum in Haar. Ihm gehe es darum, mit dem Film zu fördern, dass Menschen, die im Isar-Amper-Klinikum München-Ost in Haar Patient waren oder immer noch sind, aktiv werden. Finanziert wird der Film durch den SZ Adventskalender für gute Werke der Süddeutschen Zeitung. Kroiss erhält lediglich eine Aufwandsentschädigung. Seit gut einem Jahr ist er beschäftigt, bald möchte er mit dem Schneiden beginnen.
Doch an diesem Vormittag will Kroiss nicht nur Ausschnitte zeigen, sondern eines der letzten Interviews drehen: mit dem Kabarettisten Sigi Zimmerschied, der die Kunstwerkstatt seit vielen Jahren unterstützt. Bei seinen Auftritten im Kleinen Theater Haar werden regelmäßig Bilder ausgestellt, an diesem Tag will er selbst eines kaufen. Es zeigt einen schwarzen Vogel vor einem roten Hintergrund - er steigt hinauf, immer weiter empor, doch er droht, seine Kraft zu verlieren und abzustürzen. Genau das mache einen Menschen mit einer bipolaren Erkrankung aus, sagt der Kabarettist: hoher Flug, tiefer Fall. Etwa eine halbe Stunde sitzen sich Kameramann Kroiss und Zimmerschied gegenüber. Und der Kabarettist, der sonst derb, manchmal laut polternd auftritt, wirkt berührt. Jemand aus der Familie, erzählt er, habe eine bipolare Erkrankung und er habe sich um diesen Menschen gekümmert - zehn, 15 Jahre lang. Wie nahe sie sich genau standen, verrät Zimmerschied nicht. Doch er sagt: "Es hat ewig gedauert, bis ich diese Auf- und Abs kapiert habe und dass der Betroffene sowieso am meisten leidet, weil die Krankheit ihn so isoliert." Doch das Problem sei: "Wenn einer im Rollstuhl sitzt, sieht man es. Eine psychische Erkrankung sieht man nicht. Und natürlich kann einem eine Manie auf den Sack gehen." Der einzige Ausweg aus Zimmerschieds Sicht: Die Menschen müssten mehr über psychische Erkrankungen erfahren - und darüber, was Betroffene künstlerisch schaffen können. "Natürlich kann man nicht jedem psychisch Erkrankten einen Pinsel in die Hand drücken und es kommt ein Bild dabei heraus." Doch er habe es oft erlebt, dass psychisch Erkrankte mehr aufnehmen können und so Werke erschaffen, die herausragend seien.
Während Kroiss draußen das Interview führt, sitzt drinnen einer der Künstler, die in seinem Film vorkommen, an einer Werkbank und malt. Kreaturen, Fabelwesen, Harlekins, eine Windmühle, sehr bunt. "Naiv, kreativ", sagt Axel Bittner, der sich Rameno nennt. Jeden Tag male er ein Bild, immer eine Stunde lang, seit mehr als zehn Jahren. "Es tut einfach gut, wenn man sieht, dass man etwas geschafft hat." Das beobachtet die Leiterin der Werkstatt Ulrike Ostermayer bei vielen, die hierher kommen: das Malen, das Zeichnen, das Schaffen gebe ihnen eine Tagesstruktur, Halt und vielen eine neue Identität als Künstler. Ihre Biografien seien verschieden: Leute mit einer kleinen Lebenskrise, andere, die seit vielen Jahren nicht arbeiten könnten. Ihnen allen steht das Atelier offen, Farben und Material sind kostenlos."Mit der Kunst kann man seiner Psyche einen Ausdruck verleihen", sagt Martin Vierling, ebenfalls einer der Protagonisten in Kroiss' Film. Vor ihm auf der Werkbank liegt ein Buch über Jackson Pollock, berühmt für seine Action Paintings. Wenn er in einem von Pollocks Farbspritzern Figuren erkenne, male er sie ab, sagt Vierling. Vor 25 Jahren, als er auf der Straße lebte, bekam er seine erste Psychose, dachte, dass Menschen ihn mit Röntgenstrahlen durchdringen. Heute gehe es ihm besser, auch wegen der Kunst. Geschichten wie diese nimmt Kroiss in seinem Film auf.
Seine erste Kamera gewann Kroiss als Kind beim Losen auf einem Volksfest. Damals in seiner Heimat in Niederbayern schickte ihn seine Tante so oft wie möglich ins Kino, zeigte ihm, wie man Fotos arrangiert. Seine Ausbildung machte er in Los Angeles und lernte als Assistent von berühmten Leuten: dem Kameramann Ed Lachman zum Beispiel, der mit Werner Herzog und Wim Wenders arbeitete. Und es ist nicht das erste Mal, dass sich Kroiss in seinen Filmen mit psychischen Erkrankungen beschäftigt: Er drehte bereits einen Kurzfilm über psychisch erkrankte Frauen um 1900, einen weiteren über den Alltag von Psychiatriepatienten.
Warum ihn das Thema so interessiert? Kroiss zögert kurz und antwortet dann: "Das Mysteriöse, das Düstere hat mich schon immer fasziniert." Eine Zeit lang habe er selbst in einer tiefen Krise gesteckt und sei in Behandlung gewesen. Genauer möchte er darüber nicht sprechen und sagt stattdessen: "Was mir hier so gefällt, ist, dass die Menschen so auf dem Boden geblieben sind. Und wenn man ihnen auf Augenhöhe begegnet, gehen sie auch aus sich heraus." Wie sehr, sollen die Zuschauer sehen, wenn sein Film fertig ist - noch in diesem Winter, hofft Kroiss, könnte er gezeigt werden.