Grafing:Versöhner und Pädagoge

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Harald Parigger erinnert sich an Max Mannheimer

Vor sechzehn Jahren habe ich ihn das erste Mal erlebt: Ein älterer Herr im Dreiteiler mit tadellos gebundener Krawatte betrat die Aula, fuhr sich durch die prächtigen weißen Locken und musterte mit verschmitztem Lächeln und ohne jedes Zeichen von Nervosität die vor ihm sitzenden 180 Zehntklässler.

Ich führte ihn zu seinem Platz auf der Bühne und stellte ihn kurz vor: "Das ist Herr Max Mannheimer. Er kommt schon seit 14 Jahren ans Gymnasium Grafing, um zu unseren Schülerinnen und Schülern zu sprechen. Herr Mannheimer hat das KZ Dachau und das Vernichtungslager Auschwitz überlebt; bis auf einen Bruder ist seine ganze Familie in Auschwitz ermordet worden. Er wird heute von seinen Erlebnissen erzählen, und diese Erzählung führt uns in den entsetzlichsten Abschnitt der deutschen Geschichte, in die Zeit des Nationalsozialismus."

Natürlich warf ich dann den üblichen strengen Blick in die Runde: Waren die Aufsichten gut verteilt? Hörten alle zu? Das war heute freilich überflüssig; der weißlockige Herr mit den funkelnden Augen und dem freundlichen Lächeln hatte allein durch seine Erscheinung alle gewonnen.

Er begann seinen Vortrag mit einer Frage: Was denn ein KZ sei, welches der Prototyp aller späteren KZ und wann dieses gegründet worden sei? Nichts ahnend sah ich ins Publikum, da traf es mich wie der Blitz von hinten: "Das kann doch bestimmt der Herr Direktor beantworten!" Nach dem ersten Schrecken habe ich mich wohl ganz wacker geschlagen, denn ich erhielt ein "Richtig! Fünfzehn Punkte!"

Dann begann Max Mannheimer wirklich mit seinem Vortrag, und er schaffte es, dass sich 180 Schülerinnen und Schüler eineinhalb Stunden wie gebannt auf ihn konzentrierten. Er war der geborene Pädagoge, der mit genau der richtigen Mischung aus Erzählung, Bericht, Anekdote und Faktenwissen, mit Frage- und Antwortspiel für sich einzunehmen wusste. Das war das eine. Das andere, noch Wichtigere war sein Humor, der nie aufgesetzt wirkte und auch vor dem eigenen Ich nicht Halt machte. Noch nach der drastischsten Schilderung von Grausamkeiten der SS und der Gestapo wusste er die spürbare Anspannung des Publikums mit einer trockenen Pointe zu mildern oder gar aufzulösen. Zwischendurch erzählte er jüdische Witze, nahm sich selbst augenzwinkernd auf den Arm oder bezog einen der anwesenden Lehrer liebenswürdig in einen Scherz mit ein.

Das Dritte aber, und das war vielleicht das Wichtigste: Er klagte niemals an. "Ich bin kein Ankläger, ich bin ein Versöhner", sagte er von sich. "Ihr jungen Leute seid nicht schuld an dem, was passiert ist, aber ihr tragt die Verantwortung dafür, dass es nicht wieder geschieht." Und das verstanden die Schüler: Hier wollte einer über die Verbrechen der Vergangenheit aufklären, um eine Zukunft der Mitmenschlichkeit vorzubereiten. Kann es eine bessere pädagogische Idee geben? Die Schüler (und nicht nur die) jedenfalls waren - nein, nicht begeistert, sondern in hohem Maß aufgewühlt, zutiefst bewegt und bereit, die ihnen angetragene Verantwortung zu übernehmen. In den 13 Jahren, in denen ich das Gymnasium Grafing leitete, besuchte uns Max Mannheimer jedes Jahr, und immer traf seine eindringliche Botschaft auf Zuhörer, die nach seinem Vortrag begannen, nachzudenken und Fragen zu stellen; für sein außergewöhnliches Engagement bedankte sich das Gymnasium 2002 mit der Verleihung der Goldenen Ehrennadel.

Auch außerhalb seiner Besuche in Grafing bin ich ihm oft begegnet. Nach einiger Zeit nahm er mich, wenn wir uns trafen, in die Arme; es rührte mich, und ich empfand es als Auszeichnung. Mein Stolz kannte keine Grenzen, als er mich einmal in seinem uralten Tatra, den er wie seinen Augapfel hütete, eine Runde drehen ließ. Im Frühjahr 2016 habe ich ihn in Dachau noch einmal getroffen; er wollte einer Verpflichtung, einer Schirmherrschaft, die er übernommen hatte, nachkommen. Ich saß neben ihm, und als ich seine Hand in meine nahm, merkte ich, dass er schon fast nicht mehr von dieser Welt war.

Am 20. Elul des Jahres 5776 jüdischer Zeitrechnung ist er gestorben. Er möge ruhen an seiner Lagerstätte in Frieden. Ich werde ihn nicht vergessen.

Harald Parigger, Historiker und Schriftsteller, leitete von 2000 bis 2013 das Grafinger Gymnasium und ist seither Leiter der Bayerischen Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit in München.

© SZ vom 28.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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