Grafing:Panoptikum des Lebens

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Erleuchtet: Erzählerin Isabel Kanczer verbindet die Szenen mit selbst geschriebenen Texten. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Die Theatergruppe des Grafinger Gymnasiums verbindet in einer eigenen Inszenierung sechs bekannte Stoffe von "Faust" bis "Tschick"

Von Anja Blum, Grafing

Was macht das Leben aus? Begegnungen. Sei es mit der großen Liebe, einem echten Freund, mit Gleichgesinnten, oder auch dem Übernatürlichen, mit einer guten Fee zum Beispiel oder dem Teufel. Begegnungen können dem Leben eine Wende geben, in welche Richtung auch immer. Auf diese These gestützt hat die Theatergruppe des Grafinger Gymnasiums nun ein Experiment gewagt: eine Eigenproduktion, in der sechs bekannte Stoffe miteinander verwoben sind, eine "Nacht", so der Titel des Stücks, voller Begegnungen.

So ist ein bemerkenswertes Panoptikum des Lebens entstanden, das sowohl den jungen Spielern als auch den Zuschauern so einiges abverlangt. Denn die Aufführung ist wie ein Mosaik, das ohne Rücksicht auf die Grenzen der Genres die unterschiedlichsten Szenen zusammenfügt. Von jedem Original sind nur Versatzstücke zu sehen, so dass das Publikum die Handlungsführung - je nach Hintergrundwissen - selbst ergänzen muss. Alle paar Minuten springt das Stück von einem Setting zum nächsten, so dass sich die Figuren, Bühnenbilder und sogar die Sprachebene ständig verändern. Bei den Vorlagen, die als Fundgrube dienten, spannt die Theatergruppe nämlich einen Bogen quer durch die Literaturgeschichte: von Shakespeares "Romeo und Julia" und Goethes "Faust" über "Peter Pan" von James Matthew Barrie bis hin zu "Der Joker", einem 2002 erschienenen Jugendbuch von Markus Zusak, und "Tschick", dem Jugendroman von Wolfgang Herrndorf aus dem Jahr 2010. Sogar ein Film hat die Schüler inspiriert: Aus "A long way down" haben sie die Idee eines zufälligen Treffens mehrerer Selbstmörder auf einem Hochhaus adaptiert, daraus dann allerdings eigene Szenen entwickelt.

"Wir haben aus der Not eine Tugend gemacht", sagt Fabian Wittkowski ganz bescheiden. Der Theaterwissenschaftler und Musiker aus Glonn, selbst ehemaliges Mitglied der Schauspieltruppe des Gymnasiums, unterstützt deren Arbeit, weil Anfang des Schuljahres eine zweite Lehrkraft dafür fehlte. Dies war auch der Grund für die ungewöhnliche Produktion: "Plötzlich gab es nicht mehr zwei Gruppen nach Alter getrennt, sondern nur noch eine für alle Schüler", berichtet Wittkowski.

Also habe man nach einem Konzept gesucht, 30 junge Schauspieler möglichst sinnstiftend auf die Bühne zu bringen - und kam auf die Idee mit dem Mosaik: "Dafür haben wir Kleingruppen gebildet, die jeweils ein Thema erarbeit haben." Anschließend wurden die Szenen wild durcheinander gewürfelt und durch die selbst geschriebenen, philosophisch angehauchten Texte einer Erzählerin (Isabel Kanczer) lose verbunden. "So eine Inszenierung ist wegen ihrer vielen Brüche nicht einfach umzusetzen", sagt Wittkowski - umso mehr seien Caroline Reh, die Leiterin der Theatergruppe, und er begeistert von der Leistung ihrer Schützlinge: "Sogar die Kleinen haben das alles ganz toll verinnerlicht."

Ein ambitioniertes Projekt also - das die Schüler mit Bravour umsetzen. Das Bühnenbild ist, der vielen Szenenwechsel wegen, schlicht gehalten, so dass die Umbauten nur Sekunden dauern. Weiße Würfel sind Klassenzimmer, Bett, Auto, Bar - je nach Bedarf. Und der Dresscode lautet: schwarz-weiß, die Figuren werden also allein durch das engagierte, überzeugende Spiel der Darsteller charakterisiert.

Moritz Türck etwa gibt einen wunderbar dialektischen Tschick zwischen Angebertum und Verletzlichkeit, und Leo Maier scheut sich nicht, als Loser Mike in die Vollen zu gehen. Helena Antoni, Teresa Emmert und Anna Molema loten auf dem Hochhaus auf berührende Weise menschliche Abgründe aus, starke Gefühle zeigt aber auch Linus Michal, der als Ed ein Rätsel zu lösen hat. Kilian Jocher verzaubert als zerstreuter Peter Pan ebenso wie als Romeo, der verständlicherweise dem süßen Charme von Julia, alias Mara Menger, erlegen ist. Eine sprachliche Glanzleistung erbringen Justus Pehle als überzeugend verzweifelter Faust sowie Mephisto Tobias Manegold mit zahnspangenbewehrtem, diabolischen Grinsen. Die Herzen im Sturm erobert aber auch Louis Türck, und zwar als völlig unerschrockener Bankräuber.

Unsicherheit, Einsamkeit, Verzweiflung, Liebe, Vertrauen - dieser berührende, intensive Theaterabend lässt nichts Menschliches aus. Das Experiment ist geglückt!

"Nacht": Theateraufführung am Gymnasium Grafing, noch einmal an diesem Mittwoch, 5. Juli, um 19.30 Uhr

© SZ vom 05.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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