Grafing:Antiker Ratgeber

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Stefan Merkle übersetzt Homers "Odyssee" in die Moderne

Von Friedhelm Buchenhorst, Grafing

Was eine "Odyssee" ist, weiß wohl jeder, auch wenn er Homers Epos aus dem späten 8. oder frühen 7. vorchristlichen Jahrhundert nicht gelesen hat. Die dort dargestellten Abenteuer des wagemutigen und listenreichen Odysseus berühren in symbolischer Weise eine Problematik, die auch uns heutige Menschen umtreibt. Man kann also durchaus etwas lernen, wenn man die Odyssee liest. Es ist keineswegs ein toter Text in einer toten Sprache, sondern lebendiges Geschehen.

Dies hat jetzt der Altphilologe Stefan Merkle verdeutlicht: In der voll besetzten Turmstube der Grafinger Stadthalle hielt er einen hoch interessanten und mit viel Humor durchsetzten wissenschaftlich-künstlerischen Vortrag zur "Odyssee". Aufgelockert wurde das Programm mit musikalischen Einschüben, bei denen Merkle an der Gitarre in Chorbegleitung eigene Stücke verschiedener Stilrichtungen passend zum Thema gekonnt präsentierte.

Merkle hat seine Wissenschaft im Blut, er lebt auf in den klassischen antiken Sprachen. Das haben in den vergangenen Jahrzehnten auch jene tausende Magister-Studenten an der LMU in München gespürt, die bei ihm Latein- und Griechischkurse belegt haben. Merkle ist ein Pädagoge und Didaktiker wie man ihn nur selten findet, er versteht es in seiner gewohnt lässigen, vollkommen unkomplizierten und ewig jungen Art wie kaum jemand sonst, die komplexen Zusammenhänge antiker Literatur und im vorliegenden Falle die verwickelte Architektur der Odyssee dem modernen Menschen nahezubringen und gewissermaßen tatsächlich auch nützlich zu machen. Den Grafingern ist Merkle zudem bekannt als Gewinner des "Science Slam" im Dezember, wo er sich gegen einige naturwissenschaftliche Konkurrenz durchsetzen konnte.

Homer steht mit seinen Epen "Ilias" und "Odyssee" am Anfang der abendländischen Literatur, und schon hier wird deutlich, was 300 Jahre später der Inbegriff der klassischen griechischen Philosophie werden wird, nämlich das Denken des Menschen und seine Befreiung durch die Kraft der Vernunft. Das entscheidende Merkmal des Odysseus, des Helden der Odyssee, ist seine "Klugheit". Damit setzt er sich, wie Merkle immer wieder betont, von seinen Gefährten ab. Die Gefährten sind dumm, deshalb ist es ihnen auch nicht vergönnt, die Irrfahrten mit all ihren Abenteuern lebend zu überstehen, sie alle werden früher oder später Opfer ihrer Dummheit, der kluge Odysseus ist der Einzige, der "nach Hause kommt".

Es liegt allgemein in der Natur der Literatur, dass sie besonders nah an die Wirklichkeit heranreicht. Der ungeheure Bilderreichtum der Odyssee ist ein Abbild der oft widrigen Fährnisse des Lebens, aber mit dem richtigen "Wissen" lässt sich das Leben durchaus bewältigen. Merkle stellt hier immer wieder Bezüge her zu unserer heutigen Umwelt, übersetzt die Bilder in moderne Alltagssprache und zeigt damit, dass die Odyssee nicht einfach nur als bildungsbürgerlicher Schmuck zu sehen ist, sondern durchaus auch als moderner Ratgeber.

Merkle macht aber auch deutlich, dass Odysseus keineswegs nur ein kalter, kopfbetonter Rechner ist, denn er hat auch Gefühle. Er sitzt auf der Insel der Göttin Kalypso am Strand und weint, weil er sich so sehr nach der Heimat und den Seinigen sehnt. Sicher, Athene, die Göttin der Weisheit, hilft ihm immer wieder, aber Odysseus muss auch selbst etwas dafür tun, er muss sich anstrengen. Die Weisheit ist nicht kostenlos. Auch ist Odysseus in Tränen versunken, als er nach 20 Jahren zu Hause angekommen zunächst einzig von seinem mittlerweile uralten und gebrechlichen Hund Argos erkannt wird.

Auch die Gender-Frage wird zum Thema. Penelope, Odysseus' Gemahlin, ist eine kluge und emanzipierte Frau, die die Wirtschaft zu führen vermag und mit List die vielen Freier hinzuhalten versteht.

Stefan Merkle hat es auf das Trefflichste verstanden, so richtig Lust zu machen auf die Odyssee, das war auch im Publikum deutlich zu beobachten. Und wer diesen Epos jetzt nicht liest, ob nun erstmals oder erneut, der ist wirklich selber schuld.

© SZ vom 26.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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