Grafing:8500 Kilometer bis in die neue Heimat

Lesezeit: 2 min

Anastasia Brunner, 29, betreut Kinder auf Russisch. (Foto: Christian Endt)

Anastasia Brunner wollte Europa kennenlernen - und blieb

"Schwer zu sagen, woher ich komme", sagt Anastasia Brunner. Die 29-Jährige überlegt kurz. In Kasachstan wurde sie geboren, dort ist sie schon als Kind umgezogen, dann mit ihrer Familie nach Russland, erst nach Tschita in Transbaikalien, direkt an der Route der Transsibirischen Eisenbahn, dann nach Sachalin, auf die größte Insel des Landes, ganz im Osten, nördlich von Japan. Nun sitzt sie in Grafing in einem Café am Marktplatz, vor sich einen Milchkaffee, Sohn Daniel, eineinhalb, auf ihrem Schoß. Luftlinie nach Sachalin: 8500 Kilometer.

Wie kommt man aus dem Fernen Osten in den Kreis Ebersberg? Brunner hat auf Sachalin studiert, ein Semester in Südkorea verbracht und dann wieder auf Sachalin im Konzerncontrolling gearbeitet. Aber sie wollte mehr von der Welt sehen. "Ich hatte keine genaue Vorstellung von Europa, aber irgendwie hat es mich angezogen." Am liebsten wollte sie kostenfrei studieren oder dahin, wo sie Chancen auf ein Stipendium hat. Sie fand einen Studienplatz im österreichischen Kufstein und studierte im Master "International Business Studies" mit Schwerpunkt Finanzen. Sie arbeitete parallel in München, lernte Deutsch, Skifahren und ihren heutigen Mann kennen. Seine Eltern stammen aus Grafing, und als das Baby unterwegs war, bot es sich an, herzuziehen. "Außerdem muss man ja mit Kindern in München jede Sekunde Angst haben, dass man von einem Fahrradfahrer umgefahren wird", sagt sie und lacht.

Und weil sie jetzt erst einmal mit Daniel zu Hause bleibt und vor allem im Homeoffice arbeitet, sich aber auch engagieren will, organisiert sie seit Januar wöchentlich russischsprachige Treffen für Kinder ab acht Monaten im Familienzentrum der Stadt. In Russland, wo die Schulausbildung traditionell breiter gefächert ist, hat sie lange Musikunterricht gehabt, mit Chorliteratur und -gesang, das will sie nun weitergeben. Allerdings ohne den russischen Drill. "In Russland sollen Kinder möglichst früh sprechen, laufen, alles lernen. Ich hatte fünfmal die Woche Sporttraining, Basketball, Leichtathletik und dazu noch viermal die Woche Gitarre. Das ist völlig normal. Aber ich frage mich, warum?"

Erkenne man bei einem Kind einen Wunsch, könne man das ja entsprechend fördern, sagt sie, das Kind solle aber die Möglichkeit haben, sich "in eigenem Tempo" zu entwickeln. In Grafing erlebe sie die Erziehung und den Umgang mit Kindern entspannter. Im Café strahlen die Gäste, wenn sie Daniel sehen. Er lässt sich hochnehmen oder an der Hand führen. Aber mit dem Kinderwagen zu Besuch in Moskau, wo ihre Schwester lebt oder in der Münchner Rush Hour? Stress pur, sagt sie. Doch natürlich sei Russland noch immer ihr Zuhause, aber in Deutschland fühle sie sich eben auch wohl. Auch wenn ihr Leben so nicht geplant war, wie es bisher gelaufen ist, findet sie ziemlich gut.

© SZ vom 20.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: