Es lebe Bavaristan:Ein Schlachtfeld voller Klischees

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Dokufilmer Martin Gerner diskutiert mit Grafinger Gymnasiasten über Waffen, Vorurteile und Satire als Aufklärung. (Foto: Matthias Ferdinand Döring)

Grafings Zehntklässler setzten sich bei einem Filmvortrag mit Vorurteilen und Zivilcourage auseinander - und diskutieren mit Regisseur Martin Gerner

Von Christian Bauer, Grafing

"Ich will nicht, dass mein Blick dein Blick ist." So antwortet Martin Gerner auf die Nachfrage, was seiner eigenen Ansicht nach die Zentralaussage seines Films " Die kleinste Armee der Welt" sei. Bei einer guten Dokumentation gibt es stets mehr als nur einen "richtigen" Interpretationsansatz, erläutert er. Das übergeordnete Thema: "Anders- und Fremdsein".

Etwa 130 Schülern der zehnten Jahrgangsstufe des Grafinger Gymnasiums wurde der Film im Capitol Theater vorgeführt. Die Organisatoren der Schule und des Kreisbildungswerks (KBW) versprachen mit einem "intensiven, emotional wichtigen Vormittag" nicht zu viel. Während der gesamten 80 Minuten Spielzeit herrschte verblüffende Ruhe im jungen Publikum.

Wie die Doku zeigt, besteht die kleinste Armee der Welt aus zwei Männern: Marcus Hank und Hamon Tanin, ein Deutscher und ein gebürtiger Afghane - der mittlerweile ebenfalls Deutscher ist, seit 20 Jahren hier lebt und gerade seine Doktorarbeit verfasst. Doch das sieht man ihm nicht an, denn die Hautfarbe kann er im Gegensatz zum Pass nicht ändern. Genau darum geht es in dem Film, der ein ungewöhnliches Projekt der beiden begleitet.

Es fällt schwer, nicht schockiert zu sein, wenn die zwei Männer ihre bayerische Tracht anlegen, sich Turban und Patronengürtel umbinden und mit der Kalaschnikow in der Hand durch die ländlichen Gebiete Bayerns ziehen. Als Duo nennen sie sich Bavarian Taliban und behaupten sarkastisch, Deutschland bei der Durchsetzung von Sicherheit und Anti-Terror-Maßnahmen zu unterstützen. Tanin schlüpft dazu in die Rolle seines Alter Egos Omar Müller, der in seiner Heimatsprache Parolen verkündet wie: "Es lebe Bavaristan!"

Nebenbei haben sie auch Auftritte vor Publikum, bei denen es ebenfalls wild zugeht. So schnallt sich Hamon - oder besser Omar - einen Bombengürtel um, ruft etwas in seiner Muttersprache und eine nachgemachte Explosion erfüllt den Raum.

So fasziniert man von diesen nie zuvor gesehenen Bildern auch ist, irgendwann drängt sich dem Zuschauer die Frage auf: Was soll das Ganze? Genau das wollen die Schüler, die sich zur Nachbesprechung des Films im St.-Ägidius-Pfarrsaal zusammenfinden, von Regisseur Martin Gerner wissen. Dieser bildete viele Jahre lang junge Journalisten in Afghanistan aus. Er verrät: "Der Film ist eine Auseinandersetzung mit Medienklischees." Im Fernsehen und der Zeitung sehe man im Kontext mit Afghanistan immer nur Frauen in Burkas und Männer mit Turban und Maschinengewehren, dabei sei das Land so viel mehr. Durch die bewusst extreme Überspitzung der Klischees, die Deutsche gegenüber Afghanen Gerners Erfahrung nach haben, wolle die Dokumentation provozieren, den Deutschen "einen Spiegel vorhalten", und nicht zuletzt mit den Ängsten spielen, die durch die Medien geschürt werden. Alle im Saal werden aufgefordert, zu reflektieren: Wie habe ich mich dabei gefühlt, als ich einmal in der Minderheit war? Bin auch ich nicht frei von Vorurteilen?

Nach zögerlichem Start entwickelt sich eine lebhafte Diskussion mit den Schülern, die in vielen Fragen unterschiedliche Ansichten haben: Ab welchem Zeitpunkt war Hamon Deutscher? Wie ernst meinen er und Marcus das, was sie in ihrem Film präsentieren? Zwischendurch fungiert Gerner mehr als Moderator denn als Referent.

Dennoch erfährt man von seiner Seite spannende Hintergründe. So sei er erst später zum bestehenden Team der Bavarian Taliban dazugestoßen, die ihn durch ihre "ernste, aber auch humorvolle Art", mit ihrem Anliegen umzugehen, beeindruckt hätten. Zum Erfolg des "ungeschützten Freilandversuchs" habe er durch eigene Einfälle beigetragen. Eine seiner Ideen: sich für den Dreh mit einem Schützenverein auszutauschen, der Tanin aufgrund seines konventionellen Rufes immer Angst gemacht hatte. Ein Hinweis darauf, dass Vorurteile auf beiden Seiten existieren und überwunden werden müssen. So habe Tanin in seiner Rolle als Omar Müller "Deutschland und sich selbst neu kennengelernt".

Eine Schülerin spricht die Hassliebe zu Deutschland an, die bei beiden Protagonisten der Dokumentation spürbar war - ein Land, in dem sie gerne leben, aber auch vieles verbessern möchten. Gerner freut sich über die Beobachtung: "Das ist der Kern, warum wir den Film gemacht haben." Es gehe schlussendlich um die Frage: Warum kann in Deutschland nicht jeder sein, wer er ist, ohne dass andere sich dadurch bedroht fühlen?

Die vielleicht bedeutendste Szene des ganzen Films sieht man laut Gerner, wenn die Kunstfigur Omar - mit Turban und Tracht - den echten, T-Shirt tragenden, Buch lesenden Hamon erschießt. Eine zweite Schülerin interpretiert richtig: Der klischeebehaftete Stereotyp tötet sein eigentliches Ich, denn so wie er wirklich ist, wird er selbst nach 20 Jahren in Deutschland noch immer nicht wahrgenommen.

Die Veranstaltung fand im Rahmen des Themen-Tages "Zivilcourage" des Gymnasiums statt. Gerner erklärt, was das Wort eigentlich bedeutet: " Courage ist das französische Wort für Mut". In erster Linie der Mut, auf andere zuzugehen. Zum Abschied gibt er den Jugendlichen mit auf den Weg: "Seid offen, interessiert euch für den anderen, auch wenn er nicht so aussieht wie ihr."

© SZ vom 18.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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