Ende des Zweiten Weltkriegs:Hunger und Tod, die ständigen Begleiter

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Günther Ettenhuber musste zusehen, wie die Amerikaner nach ihrem Einmarsch in Grafing einen Jungen verprügelten und erschossen. Dennoch sagt er: "Lebensfreude haben wir immer gehabt."

Von Sara Kreuter, Grafing

Günther Ettenhuber war Ende des Zweiten Weltkriegs ein typischer sechsjähriger Junge: unterernährt, verängstigt, abenteuerlustig. Seine frühsten Kindheitserinnerungen handeln vom Krieg - "den haben wir hier in Grafing voll mitbekommen". Angst und Gewalt, das gehörte für ihn und seine vier Geschwister zum alltäglichen Leben. In der Schule lernten sie, wie man das Feuer von Brandbomben löscht, zu Hause, wie man ohne Lebensmittel ein warmes Abendessen auf den Tisch zaubert.

"Man hat gewusst, es geht zu Ende", erinnert sich Ettenhuber an das Frühjahr 1945. Er erfuhr es aus den geflüsterten Gesprächen der Erwachsenen und aus dem Radio. BBC haben sie gehört, mit der Antenne des Nachbarn, heimlich, denn wer erwischt wurde, kam ins Konzentrationslager. Deutschland würde den Krieg verlieren, hieß es im Radio. Einmal, erinnert sich Ettenhuber, marschierte ein ganzer Trupp deutscher Soldaten auf seinem Rückzug durch Grafing hindurch. Ettenhuber und die anderen Kinder liefen zu den Soldaten und gaben ihnen Wasser. "Wir haben immer geguckt, ob vielleicht der Vater oder der Bruder unter den Soldaten ist", sagt Ettenhuber. Waren sie nicht.

Schließlich kam die Nacht auf den 1. Mai. Die Amerikaner waren bereits in München einmarschiert und kamen nun nach Grafing. Ettenhubers Mutter nähte aus kostbarem weißen Stoff eine Fahne. Ganz Grafing trug in dieser Nacht Weiß, als Zeichen der Kapitulation. Schweigend saß die Familie Ettenhuber in ihrer abgedunkelten Wohnung, in der Ferne dröhnten die Panzer der Amerikaner. Es begann es zu schneien. "Keiner hat geschlafen", erinnert sich Ettenhuber. Seine Schwester habe vorsichtig durch einen Spalt in den Gardinen nach draußen gespäht, voll banger Erwartung. In dieser Nacht endete für Ettenhuber der Zweite Weltkrieg: "Die Kapitulation war ja nur eine offizielle Sache. Sobald die Amerikaner da waren, war der Krieg aus."

Erleichtert war die Familie nicht. "Das Gefühl der Befreiung war überhaupt nicht da", so Ettenhuber. Schließlich war alles zerstört. Zwei Jungs aus der Nachbarschaft fischten eine Eierhandgranate aus dem Fluss - die ganze Schule ging zur Beerdigung. Hunger zehrte an der Gesundheit. Wollte man zum Bäcker, standen meist 50 Leute in der Schlange an, kam man endlich dran, gab es kein Brot mehr. Günther Ettenhuber war so mager, dass er sich als Engel bezeichnete - seine Schulterblätter standen so weit heraus, dass er dachte, ihm wachsen Flügel. "Unsere stetigen Begleiter waren Angst und Unsicherheit." Einmal musste Ettenhuber mit ansehen, wie zwei Amerikaner einen 17-jährigen deutschen Jungen verprügelten und erschossen.

Nach und nach nahmen die Amerikaner die Häuser der Grafinger in Beschlag. "Wir haben uns große Sorgen gemacht, denn wir hätten nirgendwo hingehen können", berichtet Ettenhuber. Seine Mutter fürchtete das offenbar auch und verteilte den Inhalt des Plumpsklos über den Garten der Familie. Mit Erfolg: Die Sieger machten einen weiten Bogen um das Grundstück.

Irgendwie lernten die Ettenhubers, sich mit den Amerikanern zu arrangieren. Auf dem Grafinger Marktplatz wurde nun Glenn Miller gespielt, Ettenhuber und seine Freunde sammelten die weggeworfenen Zigarettenstummel der Amis und verkauften den Tabak für Brot, durchwühlten den Müll auf der Straße auf der Suche nach Lebensmitteln und klauten, "was das Zeug hielt". In ihrer Freizeit spielten die Jungen mit den weggeworfenen Waffen der Deutschen Krieg, schossen mit echten Gewehren ohne Munition aufeinander, bauten sich Schützengräben aus Heu. Besonderen Anlass zur Freude hatte die Familie, als im Juli 1945 hintereinander Ettenhubers Vater und sein Bruder aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehren.

Heute ist Günther Ettenhuber 76 Jahre alt. Er wohnt immer noch in dem Haus, das seine Mutter damals vor der Einquartierung durch die Amerikaner bewahrte. Ernst berichtet er von den Schrecken seiner Vergangenheit, eine Erinnerung bringt die nächste mit sich. Weite Gesten unterstreichen, was er berichtet: Dort hinten links die Panzer, rechts die Sanitäter, Soldaten, Schulspeisung. Was damals passierte, hat sich fest in sein Gedächtnis eingebrannt. Es war die schrecklichste Zeit in seinem Leben, erklärt Ettenhuber. Aber eines ist ihm wichtig: "Auch wenn die Jahre im und nach dem Krieg bitter waren: Lebensfreude haben wir immer gehabt."

© SZ vom 21.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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