Ebersberg:Vorsicht, zerbrechlich

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Wie viele andere Wachstumsgemeinden läuft auch Poing Gefahr, seine Identität zu verlieren. Ein aufwendiges Marketing-Konzept soll die Gemeinschaft erhalten

Von Anselm Schindler

Ein großes Fest soll es werden, wenn die Gemeinde Poing an diesem Donnerstag die Freizeitflächen im Baugebiet Seewinkel einweiht. Geplant wird die Veranstaltung von der Bauträgergemeinschaft Arge, der Gemeinde Poing und Thomas Schächtl, der dem Wachstum Poings ein Gesicht geben soll. Vor einigen Monaten hat sich Schächtl selbstständig gemacht und zusammen mit zwei weiteren Marketing-Strategen die Schächtl Kommunikation gegründet, das Budget kommt von der Arge. Das Ziel: Die Boom-Gemeinde Poing trotz des rasanten Wachstums zusammenhalten; die Geschlossenheit der Dorfgemeinschaft in die Modernität retten, gewissermaßen. Doch wie kann das überhaupt gelingen?

"Keine Treffer" zeigt das Display des Navigationsgerätes an. Es heißt also: Fenster runterkurbeln und nach dem Weg fragen: "Wo geht es denn hier zur Bergfeldstraße?" Die Antwort sind ratlose Gesichter. "Ich kenn' mich hier in Poing auch nicht aus", ruft eine Passantin. Dabei umrahmt die Bergfeldstraße den kompletten Nordosten der Wachstumsgemeinde. Sie trennt die ambitionierten Neubaugebiete Poings von Feldern und Äckern. "Ich kenn' hier auch nicht mehr jeden Straßennamen sofort", gibt Poings Bürgermeister Albert Hingerl unumwunden zu und lacht. Rübezahlweg, Rotkäppchenstraße und Entenweg - bei der Benennung der Straßen in den Neubaugebieten war viel Fantasie im Spiel. Den meisten Alteingesessenen, die jenseits der S-Bahn-Linie im Südosten leben, werden sie trotzdem nichts sagen.

Ein Kran reiht sich in Poings Baugebieten - hier im Seewinkel - an den nächsten. Bis 2030 soll sich die Einwohnerzahl der Gemeinde verdoppeln. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

4500 Einwohner hatte die Gemeinde im Jahr 1970. 10 500 waren es zur Jahrtausendwende; bis 2030 werde sich diese Zahl nochmals mehr als verdoppeln. Das zumindest schätzt Bürgermeister Hingerl. Es ist eine Art Erfolgsgeschichte: vom Dorf zur urbanen Metropolregion an den Ausläufern Münchens. Doch wie schafft man es, dass der Charakter des Ortes trotz des rasanten Wachstums bestehen bleibt? Dass die Bürger sich verbunden fühlen und nicht die Kälte der städtischen Anonymität Einzug hält? Diese Frage hat man sich in Poing schon vor langer Zeit gestellt.

Als Antwort setzte man vor etwa zehn Jahren den Begriff Standortmarketing auf die Tagesordnung. Ungewöhnlich für eine Gemeinde dieser Größenordnung; "in Bayern einzigartig", wie Hingerl sagt. Die Idee: Die Gemeinde soll durch Öffentlichkeitsarbeit und Präsenz direkt mit den Bürgern in Kontakt treten. Das Ziel: Die Bürger am Wachsen Poings teilhaben zu lassen, um die Identität der Gemeinde zu bewahren. Info-Veranstaltungen, Straßen-, Stadtteil- und Volksfeste gehören genauso zur Umsetzung dieser Idee wie Spatenstiche und ein Konzept für den Internet-Auftritt der Neubaugebiete. 2009 gab die Arge das Standortmarketing in Auftrag, die Münchner Allmender GmbH sollte fortan das Gesicht Poings entwickeln. Geleitet wurde die Allmender GmbH damals von Reinhold Petrich und Thomas Schächtl, der sich vor einigen Monaten selbstständig gemacht hat.

Thomas Schächtl, der sich vor einigen Monaten selbstständig gemacht hat. (Foto: privat)

Ein Treffen im Bauleiter-Container der Arge: Neben Schächtl und Hingerl sitzen hier Thomas Stark, Büroleiter des Bürgermeisters, und Helmut Sloim von der Arge. Vor den Fenstern des Containers erstreckt sich das Bauland: die S-Bahn ist nicht weit, München nah. Hier werden Träume von mittelständischen Pendler-Familien geschmiedet - von Menschen also, die sich oft mehr an der Landeshauptstadt orientieren, als am Gemeindeleben. "Ohne das Standortmarketing käme es hier sicher zu einer Spaltung", ist sich Hingerl sicher.

Konkreter wird das Ganze, wenn man den Konferenztisch verlässt und einige hundert Meter über die Freizeitflächen des Neubaugebietes Seewinkel schlendert. Hier wird die Einweihungsfeier der Freizeitflächen stattfinden. Für die Gestaltung der Anlage hätte man einfach eine Firma beauftragen und diese machen lassen können. Das Standortmarketing aber hat sich entschieden, den Spielplatz "aus der Gemeinde heraus zu entwickeln", wie Schächtl sagt. Die örtliche Seerosenschule wurde mit der Produktion von Sitzbänken beauftragt. Im Frühjahr 2015 stellten 15 Jugendliche der Schülerfirma ihre gestalterischen Ideen vor: Die Seitenwände stellen aus Beton gegossene Tiere dar. Später sollen sich die Schüler auch um die Instandhaltung der Bänke kümmern. Inzwischen kann man sich bereits auf den ihnen niederlassen; der Blick fällt auf ein Piratenschiff.

In den 60er Jahren setzte in Poing der Bau-Boom ein. Er begann mit 200 Hektar Baufläche, die die Gemeinde der Arge zur Verfügung stellte. Als Bürgermeister Hingerl in den 70er Jahren nach Poing zog, da gab es noch kein Poing am Bergfeldsee; die ersten Gebäude kamen Mitte der 80er. "Die Neubaugebiete haben Poing verdoppelt, verdreifacht - und wenn es so weitergeht, wird der Ort bald vier mal so groß sein wie damals", sagt Hingerl. "Der Bauträger kommt, stellt was hin und zieht dann weiter." So erläutert Thomas Schächtl, wie es in anderen Gemeinden laufe. Dabei sucht er den Augenkontakt zu Hingerl. "Hier in Poing übernehmen Bauträger und Gemeinde gemeinsam Verantwortung dafür, wie sich der Ort entwickelt".

Natürlich sei man sich bei der Planung neuer Baugebiete nicht immer einig: Diskutiert wurde schon über vieles - beispielsweise über die Grünzüge, welche die Neubaugebiete erholsamer machen sollen. "Es ist nicht so, dass wir befreundet wären", sagt der Bürgermeister. "Jeder hat ja seine wirtschaftlichen Interessen. Die Frage ist: Warum bleiben die Bauträger hier? Wegen der Rendite." Nur das gemeinsame Fortentwickeln der Baugebiete sorge dafür, dass die Bauträger von einem Abverkauf absähen und im Ort blieben. Und das wird auch in den kommenden Jahren wichtig bleiben: Die Erschließung weiterer Gebiete nördlich der Bergfeldstraße ist bereits in Planung.

© SZ vom 12.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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