Ebersberg:Ungünstige Sozialprognose

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Ein 19-jähriger Senegalese wird wegen Marihuana-Besitz, Diebstählen und Schwarzfahren zu neun Monaten Haft verurteilt. Die Schuldfrage ist schnell geklärt, die gesellschaftlichen Fragen bleiben offen

Von Anselm Schindler, Ebersberg

Nach der Verhandlung am Dienstagvormittag wird der Verurteilte in Handschellen abgeführt, festgekettet an einen Justizbeamten. Seine Freundin versucht, sich an ihn zu klammern. Ob er wenigstens noch eine Zigarette rauchen dürfe, fragt sie den Justizbeamten. Doch der antwortet nur harsch mit "nein". Die junge Frau streicht dem Verurteilten ein letztes Mal über die Wange, sie wird ihren Freund für lange Zeit nicht sehen. Aus der U-Haft, in der der Verurteilte in den vergangenen Monaten saß, geht es für ihn vom Ebersberger Amtsgericht aus direkt ins Gefängnis.

Drei Mal hat sich der 19-Jährige beim Schwarzfahren erwischen lassen, ein Mal hat er Schuhe entwendet, in einem Münchner Club Handys aus Handtaschen geklaut. Und dann war das noch das Marihuana, zwei Mal wurde er damit erwischt, es waren kleine Mengen, Eigenbedarf. Am Münchner Hauptbahnhof habe man ihn aber dabei beobachtet, wie er für einen Dealer Schmiere gestanden habe, berichtet ein Polizist, der als Zeuge geladen ist. Man vermute, er sei Teil der "schwarzafrikanischen Drogenszene am Münchner Hauptbahnhof", sagt der Polizeibeamte.

Der junge Mann ist als Flüchtling nach Deutschland und dann nach Ebersberg gekommen. Er stammt aus Senegal. Ein Urteil ist beim Prozess im Ebersberger Amtsgericht schnell gefällt: neun Monate. Ohne Bewährung.

Während einer Verhandlungspause steht Lamin Taal vor der Eingangstür des Amtsgerichtes und raucht. Taal ist an diesem winterlichen Dienstagvormittag ins Ebersberger Amtsgericht gekommen, um zu übersetzen. "Hätte er einen Job, hätte er gar keine Zeit, sich am Hauptbahnhof rumzutreiben", sagt Lamin Taal über den Angeklagten, drückt seine Kippe im Schnee aus, der sich im Aschenbecher aufgetürmt hat, und zündet sich gleich noch eine an. Taal, der 1991 aus Gambia nach Deutschland gekommen ist und neben seiner Tätigkeit als Postangestellter als Übersetzer für Polizei, Behörden und Gerichte arbeitet, kennt die Geschichten, die hinter den Worten stecken, die er übersetzt. "Da könnte ich ewig erzählen". Man merkt schnell, dass Taal die Geschichten nicht loslassen, sein Blick ist müde, was wohl nicht nur an der Überarbeitung liegt. Eine dieser Geschichten ist die des 19-jährigen Senegalesen.

"Die Sache ist ja eigentlich ganz einfach: Deutschland braucht junge Männer, die anpacken können, aber wenn diese Menschen keine Chancen haben, Deutsch zu lernen oder zu arbeiten, machen sie dumme Sachen". Das gibt, kurz gefasst, auch die Situation des Angeklagten wieder.

Gerne würde er arbeiten oder wenigstens Fußball spielen, aber die Vereine seien schlichtweg überlaufen, sagt der 19-Jährige. So lange sein Asylverfahren läuft, hat er kein Anrecht auf einen regulären Deutschkurs. Und weil er aus einem Land kommt, das als sicherer Herkunftsstaat gilt, darf er hier auch nicht arbeiten. Kein Deutsch, keine Arbeit, kein Fußball. Und zudem vermutlich auch keine Chance, langfristig in Deutschland zu bleiben. Nur Gras und vielleicht die Möglichkeit, sich damit am Hauptbahnhof einige Euro zu verdienen.

Eine "ungünstige Sozialprognose" nennt das Richterin Vera Hörauf. "Da beißt sich die Katze selbst in den Schwanz", sagt Bettina Judt von der Jugendgerichtshilfe Ebersberg. Was macht man mit einem jungen Mann, bei dem wegen mangelnder Sprachkenntnisse sämtliche Eingliederungsmaßnahmen scheitern? Sozialstunden, Therapie und Bewährungshilfe fallen weg, das sieht auch Jugendgerichtshelferin Judt so. Vor einigen Wochen war der 19-jährige Asylbewerber bei ihr, ohne Termin sei er gekommen, habe "hilflos und überfordert" gewirkt. Doch helfen konnte ihm auch Judt nicht, weder sie noch er sprechen ausreichend Englisch.

"Einen Deutschen hätten wir genauso behandelt", versichert Richterin Hörauf nach der Verhandlung. Doch das Strafmaß wirkt hoch, Gras, Diebstahl und Schwarzfahren, gerade für solche Fälle hält das Jugendstrafrecht eigentlich ein Sammelsurium an Maßnahmen bereit, die Haftstrafen vermeiden sollen. Doch was machen, mit einem jungen Mann, bei dem diese Maßnahmen nicht greifen?

Vorgestellt hat sich der 19-Jährige unter dem Leben in Deutschland etwas anderes. Da sitzt er nun, auf der Anklagebank, versteht kein Wort, wirft seinem Dolmetscher verunsicherte Blicke zu. Über Mali, den Niger und Libyen ist er gereist, um der Perspektivlosigkeit in seiner Heimat zu entkommen. Rund 5000 Kilometer bis zur Küste des Mittelmeers.

Als fliegender Händler hat er in seinem Heimatland hin und wieder gearbeitet, das Geld reichte nicht, als sein Vater starb verließ er seine Heimat, seine Familie, seine sieben Schwestern. Auf einem Boot erreichte er Sizilien, Europa, den Landkreis. Nun sitzt er vor Richterin Vera Hörauf, seine Augen wandern am Fußboden entlang. Nie wieder wolle er straffällig werden, lässt er Lamin Taal übersetzen. Doch das will ihm die Richterin nicht glauben. Es sei davon auszugehen, dass der junge Mann weitere Straftaten begehe, sagt sie. Deshalb die Haftstrafe. "Ich finde das ungerecht", schimpft die Freundin des Angeklagten nach der Verhandlung. Sie blickt ihrem Freund hinterher, "was soll er denn tun?"

© SZ vom 02.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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