Mehr als verdoppelt haben sich im Landkreis Ebersberg innerhalb von 15 Jahren die Fälle, in denen Menschen wegen psychisch bedingter Essstörungen vollstationär in der Kreisklinik behandelt werden mussten. Die Zahlen, die das Landesamt für Statistik dazu liefert, stammen aus den Jahren 2000 bis 2014. Zuletzt waren 29 Ebersberger schwer an einer Essstörung erkrankt, im Jahr 2000 waren es 14 Patienten.
"Auffällig ist, dass die meisten Betroffenen weiblich und unter 30 Jahre alt sind", sagt Markus Neumeier, Pressereferent der Krankenkasse IKK classic, die die Daten vom Landesamt abgefragt hat. Im Landkreis Ebersberg etwa zählte man 2014 drei Männer und 26 Frauen, die wegen Essstörungen stationär behandelt wurden. Die Zahl der Betroffenen insgesamt dürfte dabei jedoch weitaus größer sein, denn: "Viele Fälle werden ambulant oder gar nicht behandelt", so Neumeier. "Gerade viele junge Menschen erkennen von sich aus gar nicht, dass sie krank sind."
Betroffene holen sich sehr lange keine Hilfe
Das Essstörungen "ein Riesenthema" seien, sagt auch Doktor Claus Krüger, Chef der psychosomatischen Abteilung der Ebersberger Kreisklinik. Er hat Erfahrung mit der Art Erkrankung, weil er lange im Klinikum Rechts der Isar in München eine Ambulanz für Essstörungen leitete. "Das wohl größte Problem ist, dass man mit einer Essstörung relativ lange ganz gut leben kann", so Krüger, "deswegen holen sich viele Betroffene entweder gar keine Hilfe oder brechen die Behandlung schnell wieder ab, vor allem, wenn sie zum Essen gezwungen werden."
Auch in der Psychosomatik der Kreisklinik werden laut Krüger immer öfter Betroffene aufgenommen, bislang sind Essstörungen dort allerdings kein Schwerpunkt. "Das bedeutet nur, dass wir keine speziellen Gruppen für diese Patienten haben, sondern sie in gemischten Gruppen behandeln", so der Chefarzt. Damit mache man in Ebersberg allerdings gute Erfahrungen. "Wohl auch deshalb, weil wir ein anderes Konzept als die meisten Kliniken haben." In Ebersberg nämlich liege der Schwerpunkt nicht auf der Behandlung der Symptome und auf der Veränderung des Essverhaltens. "Wir konzentrieren uns zuerst vor allem auf die Ursachen und die Probleme hinter der Störung. Deswegen müssen Patienten nicht von Anfang an Gewicht zunehmen oder ihr Essverhalten umstellen", so Krüger.
Gestörtes Verhältnis zu Essen und Körper
Essstörungen sind psychische Erkrankungen, zu denen etwa die Magersucht (Anorexia nervosa) und die Ess-Brechsucht (Bulimie) zählen. Charakteristisch ist ein gestörtes Verhältnis zum Essen sowie zum eigenen Körper, das sich meist im Jugend- oder frühen Erwachsenenalter entwickelt. Nach einer Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen des Robert Koch-Instituts gibt es bei mehr als 20 Prozent der 11- bis 17-jährigen Jugendlichen Hinweise auf eine Essstörung, Mädchen sind dabei doppelt so häufig betroffen wie Jungen.
Neben einer falschen Ernährung können sich auch gesellschaftliche Schönheitsideale auf das Körperselbstbild der Betroffenen auswirken. "Eine möglichst schlanke Figur wird leider häufig mit Glück und Erfolg gleichgesetzt", sagt Neumeier. Und das bestätigt auch Krüger. "Der gesellschaftliche Druck steigt in allen Bereichen immer weiter an: Nur die Leistung zählt, keiner will ein Versager sein."
Ein fürchterlicher Kreislauf entsteht
Wohl deswegen sei besonders ein Anstieg der "heimlichen Essstörungen" zu beobachten: "Das sind Frauen mit einer normalen, guten Figur, die es gewohnt sind zu funktionieren und immer sehr auf ihr Gewicht zu achten", erklärt Krüger. "Aber irgendwann können sie nicht mehr und stopfen alles in sich hinein." Danach übermanne diese Frauen unweigerlich ihr schlechtes Gewissen, das sie mit übermäßigem Sport, Abführmitteln oder eben auch Erbrechen zu kompensieren versuchten. "Ein fürchterlicher Kreislauf", den man den Betroffenen jedoch in der Regel nicht ansehe.
Sowohl Krüger als auch Neumeier sind alarmiert von den steigenden Patientenzahlen. "Wir müssen frühzeitig handeln, damit Kinder und Jugendliche gar nicht erst falsche Körperideale entwickeln", sagt Neumeier. Bereits in Kindergarten und Schule sollte man ein gesundes Essverhalten fördern und Eltern und Erzieher sensibilisieren. Die Krankenkasse bietet daher - neben vielen anderen Initiativen - ein Ernährungsprojekt für Kitas an. Und Krüger schließt nicht aus, Essstörungen künftig zu einem Schwerpunkt seiner Abteilung zu machen. "Wenn dieser Trend anhält, sollten wir darauf reagieren."