Ebersberg:"Er weiß um seine Defekte"

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Vor neun Jahren platzte im Gehirn von Martin Schnerall ein Aneurysma. Seitdem leidet er an vaskulärer Demenz. Er und seine Frau, die rund um die Uhr für ihn da ist, nehmen ihre Situation jedoch mit viel Humor

Von Johanna Feckl, Ebersberg

Mehr als 30 Jahre lang nannten sich Susanne und Martin Schnerall, die eigentlich anders heißen, ihre eigenen Chefs. Jeden Tag waren sie damals abrufbereit, für ihre Kunden erreichbar. "Selbstständig, das bedeutet: selbst machen und zwar ständig: Wir haben all die Jahre so viel gewerkelt", erinnert sich Martin Schnerall. Er schüttelt leicht den Kopf und lächelt dabei, dreht sich um und zeigt ein paar Meter weiter die kleine Straße hinunter auf ein Haus. "Aber das war gut! Ansonsten hätten wir uns das da nie leisten können." Im eigenen Betrieb arbeitet das Ehepaar schon lange nicht mehr. Als Martin Schnerall vor einigen Jahren erkrankte, mussten sie ihn abmelden. Trotzdem ist Susanne Schnerall immer noch vollzeitbeschäftigt: Rund um die Uhr kümmert sie sich fürsorglich um ihren Mann, der seit 2008 dement ist.

Martin Schnerall hatte ein Aneurysma in seinem Gehirn, bis die Arterienerweiterung schließlich vor neun Jahren platzte. Krankenhaus. Intensivstation. Sechs Wochen lang. Der heute 65-Jährige war halbseitig gelähmt, musste künstlich beatmet werden, konnte nicht mehr schlucken und sein Gedächtnis verließ ihn. Es folgten Aufenthalte in verschiedenen Rehakliniken, fast ein halbes Jahr lang. "Im Laufe der Zeit hat sich dann herausgestellt, welche Defekte bleibend sind", sagt Susanne Schnerall. Der Gedächtnisverlust gehörte dazu. Vaskuläre Demenz nennt sich dieses Leiden - vaskulär, weil Probleme der Blutgefäße die Demenz auslösen. Seitdem bestimmt diese Krankheit den Alltag des Ehepaars.

Zweimal pro Woche bringt Susanne Schnerall ihren Mann zur Ergotherapie, wo der 65-Jährige durch verschiedene Aufgaben und Spiele sein Gedächtnis trainiert. An einem dritten Tag steht eine gerätegestützte Krankengymnastik an. Die körperliche Bewegung ist sehr wichtig. "Wir gehen dreimal täglich für je mindestens eine Stunde spazieren", sagt Susanne Schnerall. Im Sommer, wenn es sehr heiß ist, dann lässt das Paar manchmal eine ihrer Runden ausfallen. "Aber dann lässt auch sofort die Gedächtnisleistung nach, das merkt man sofort", sagt die Ehefrau. Sie und ihr Mann stimmen gemeinsam in Gelächter ein. Das tun sie oft - die beiden lachen viel. "Man muss das eben alles auch mit etwas Humor nehmen", ist sich die 60-Jährige sicher. Das mache es leichter. Sie sitzt an einem großen Holztisch im Wohnzimmer. Neben ihr hat ihr Mann Platz genommen.

Martin Schnerall trägt ein blaukariertes Hemd. Der Saum ist ordentlich in den Hosenbund gesteckt. Hinter seinem filigranen Brillengestell verfolgen interessierte und klare Augen das Gespräch. Er ergänzt die Erzählungen seiner Frau oder nickt zustimmend. Seine dunklen Haare, die schon etwas licht werden, hat Schnerall seitlich nach hinten gekämmt. Ein Mann in seinen Sechzigern eben. "Die meisten können sich unter dem Ganzen nichts vorstellen. Da sagen viele: Du schaust doch so fit aus!", erzählt er. "Die urteilen allein nach dem Äußeren." Es scheint, als ob sich der 65-Jährige seiner Krankheit durchaus bewusst ist. Doch seine Frau schüttelt den Kopf. "Er weiß um seine Defekte, also dass er immer wieder vergisst." Aber die Schlussfolgerung, dass dies aufgrund seiner Demenzerkrankung so ist, könne er nicht ziehen. "Oder er hat es dann schon kurz darauf wieder vergessen." Ganz sicher ist sich seine Frau da nicht.

In der Nachbarschaft wissen alle, dass Martin Schnerall an Demenz leidet. Susanne Schnerall erinnert sich, dass sie ihren Mann zu Beginn seiner Krankheit einmal länger als eine Stunde im Ort gesucht hat. Damals waren noch nicht alle eingeweiht. Heute, wenn ihr Mann alleine auf der Straße unterwegs ist, wird er sofort von den Nachbarn angesprochen. "Das ist doch gut so. Ich finde das schlecht, wenn man es geheim hält", urteilt die 60-Jährige. Nur durch einen offenen Umgang mit der Krankheit könne man Hemmschwellen und Ängste abbauen - und Unterstützung erhalten.

Die Offenheit ist auch der Grund, weshalb die 60-Jährige alle vier Wochen an einem Gesprächskreis für pflegende Angehörige teilnimmt, den die Caritas organisiert. Der Austausch dort ist ihr eine große Hilfe. "Jeder weiß immer wieder irgendetwas Neues", sagt sie. Das reiche von Alltagstipps im Umgang mit den Patienten bis hin zu Änderungen bei den Pflegestufen. Und trotzdem kommen meistens nur vier oder fünf Angehörige zu den Treffen. Susanne Schnerall kann das nicht nachvollziehen, schließlich sei man ja unter sich. "Die meisten haben wohl ein Problem mit sich selbst; die verstecken sich und wollen nicht darüber reden", vermutet sie. Viele würden der Zeit nachtrauern, als die Demenz des Ehepartners oder Elternteils noch nicht das eigene Leben bestimmt habe. Susanne Schnerall sieht das anders. "Ich muss mich an dem freuen, was ich alles noch machen kann, und darf nicht dem nachtrauern, was eben nicht mehr geht."

© SZ vom 09.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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