Ebersberg:"Eine absolute Verzweiflungstat"

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Nach der Messerattacke in Grafing: Claus Krüger, Chef der Psychosomatik an der Kreisklinik, warnt davor, psychisch Kranke unter Generalverdacht zu stellen

Interview von Anja Blum

Nach der Bluttat in Grafing-Bahnhof stellt Claus Krüger, Chef der psychosomatischen Abteilung der Ebersberger Kreisklinik, eine zunehmende Verunsicherung in der Bevölkerung fest. Der 27-jährige Paul H. hatte am Morgen des 10. Mai am Bahnsteig in Grafing-Bahnhof vier Menschen mit einem Messer angegriffen. Ein 56 Jahre alter Mann aus Wasserburg starb später in einer Klinik, die drei anderen Opfer wurden schwer verletzt. Der Täter aus Hessen wurde kurz darauf in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Ein medizinischer Gutachter hatte diagnostiziert, dass der Mann an einer psychischen Erkrankung leide. Außerdem nahm der Gutachter an, dass der 27-Jährige die Taten "im Zustand der Schuldunfähigkeit oder zumindest verminderten Schuldfähigkeit" begangen habe.

SZ: Herr Krüger, wie beurteilen Sie als Experte für psychische Erkrankungen das Geschehen von Grafing-Bahnhof?

Claus Krüger: Was passiert ist, ist schrecklich. Aber hier verallgemeinernd von einer psychischen Erkrankung als Ursache zu sprechen, ist falsch. Hier haben wir es wohl mit einer Ausnahme von der Ausnahme zu tun. Solche Fälle sind sehr, sehr selten. Das kann man nicht oft genug betonen.

Warum das?

Weil solche Schlagzeilen - die in einem Atemzug von psychischer Erkrankung und Mord, oder von einem depressiven Piloten, der seinen Flieger absichtlich abstürzen lässt, sprechen - vielen Menschen Angst machen. Ich bekomme das bei unseren Infoveranstaltungen und bei meinen Vorträgen ganz deutlich mit.

Wovor genau haben die Menschen Angst? Davor, Opfer eines psychisch Kranken zu werden?

Nein, es geht vielmehr um die Sorge, dass sie selbst in eine solche Spirale rutschen könnten. Menschen, die merken, dass ihre eigene Psyche oder die eines Angehörigen instabil ist, befürchten immer öfter das Schlimmste. Werde ich so langsam wahnsinnig? Verliere ich die Kontrolle? Werde ich bald weggesperrt? Geht das je wieder weg? So lauten die bohrenden Fragen, die sich die Betroffenen stellen.

Das klingt nach Panik. . .

Ja, absolut. Doch das geht in die falsche Richtung. Denn: Nur weil man psychische Probleme hat, wird man noch lange nicht gewalttätig oder muss in die Psychiatrie. Es ist ganz wichtig, hier zu differenzieren, so wie wir das bei körperlichen Erkrankungen auch tun. Ein gebrochenes Bein ist schließlich auch etwas ganz anderes als eine Blinddarmentzündung oder eine Operation am Herzen. . .

Das heißt?

Dass Menschen in Krisen geraten, ist völlig normal. Man geht davon aus, dass etwa 30 Prozent der Bevölkerung solche Phasen erleben, sei es wegen des Verlusts des Arbeitsplatzes, einer Scheidung, einem Todesfall oder anderen Erlebnissen, die einen aus der Bahn werfen können. Und auch, dass sich in einer Krise psychische Erkrankungen entwickeln, ist normal. Das kann jeden treffen. Die häufigsten sind Angst- oder Schlafstörungen, Depressionen und Alkoholabhängigkeit. Psychische Erkrankungen stehen bei der Arbeitsunfähigkeit mittlerweile auf Platz drei.

Doch diese Menschen werden nicht zu Tätern?

Nein, diese Patienten sind alle nicht gewalttätig. Und in den allermeisten Fällen, etwa 95 Prozent, gibt es einen Ausweg: Psychotherapie hilft!

Und was ist mit dem Rest, dem Täter aus Grafing-Bahnhof zum Beispiel?

Fälle wie dieser sind die absolute Minderheit. Hier geht es um schwere Psychosen und Schizophrenien, die mit paranoiden Halluzinationen einhergehen können. Davon ist maximal ein Prozent der Bevölkerung betroffen, meist Menschen zwischen 18 und 35 Jahren. Und hier ist tatsächlich eine stationäre psychiatrische Behandlung mit Medikamenten und Soziotherapie nötig, die auch in etwa 70 Prozent der Fälle erfolgreich ist.

Und diese Menschen sind gewalttätig?

Nein, das ist wiederum eine schwerkranke Untergruppe von etwa zehn Prozent. Diese Patienten können ausflippen, wenn sie sich verfolgt fühlen, wobei sich die Gewaltausbrüche in der Regel vorher ankündigen und nur gegen nahestehende Personen richten.

Insofern ist die Tat in Grafing die "Ausnahme von der Ausnahme"?

Ja, genau. Dieser junge Mann hat zuvor eine Behandlung abgebrochen, hat Drogen genommen anstatt Medikamente, ist stundenlang ohne Bleibe herumgeirrt. Das war - zumindest aus meiner externen Sicht - eine absolute Verzweiflungstat.

Was halten Sie von der Aussage, dass der Täter islamistische Parolen gerufen habe?

Ich denke, das war eine bewusste oder unbewusste Provokation, die einfach seinem Wahn entsprang.

Wie kann es passieren, dass ein offensichtlich äußerst verwirrter Mensch eine psychiatrische Klinik verlässt - und nur wenige Stunden später einen Menschen tötet?

Was genau in der Heimat des Täters geschehen ist, kann ich natürlich nicht beurteilen. Grundsätzlich sind die Hürden, jemanden gegen seinen Willen einzusperren, sehr hoch - und das ist auch gut so. Wäre dieser Mann mein Patient gewesen, hätte ich auf jeden Fall die Angehörigen und den Hausarzt über sein Verschwinden informiert und klar gemacht, dass er nicht alleine gelassen und zur Rückkehr in die Klinik motiviert werden sollte. Ob das versucht wurde, weiß ich freilich nicht. Außerdem denke ich, dass hier auch noch andere Menschen reagieren hätten können: Mitarbeiter der Bahn oder einfach Passanten. Es müssen einige Leute einen seltsamen verwirrten Menschen ohne Schuhe gesehen haben, der die Nacht am Bahnsteig verbracht hat. Aber niemand hat etwas unternommen, zum Beispiel die Polizei gerufen. Da sollten wir alle aufmerksamer sein.

© SZ vom 21.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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