Ebersberg:Der Satz "Ich muss in die Schule" ist eine Katastrophe

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Vier Abiturienten aus vier Schulen im Landkreis treffen sich zu einem Gespräch über Schule. Nach acht Jahren am Gymnasium haben sie sich eine sehr dezidierte Meinung gebildet - und egal ist ihnen das Thema ganz und gar nicht, auch wenn sie es jetzt hinter sich haben

Interview von S. Dinkel, A. Leuthner und M. Reinelt

Ein Tag vor der Verleihung der Abiturzeugnisse. Ein Tag bevor der Lebensabschnitt Schule für vier Abiturienten aus den vier Gymnasien des Landkreises unwiderruflich endet, ein Tag bevor sie die Ehrengäste sind in jener Institution, in der sie so viel Zeit verbracht haben, dass sie vermutlich jeden Liebesschwur auf jeder Toilettentür ebenso auswendig herbeten können, wie die 3. Ableitung einer Exponentialfunktion oder die letzten Worte von Goethes Faust. Draußen scheint endlich die Sonne, die Freiheit ruft, in ihren Schulen laufen die Vorbereitungen auf das große Fest. Und doch haben sich Clara Storz (Gymnasium Grafing), Franziska Decker (Humboldt-Gymnasium Vaterstetten), Till Bickhardt (Franz-Marc-Gymnasium Markt Schwaben) und Jonas Glaser (Gymnasium Kirchseeon), die Zeit genommen, um in der SZ-Redaktion über das System Schule zu sprechen. Zwei Minuten, nachdem sie sich kennen gelernt haben, werden allerdings erst mal ausgiebig Einzelheiten über das kommende Feierwochenende ausgetauscht. Aber das ist nur das Vorgeplänkel.

SZ: Die Note auf Euren Abiturzeugnissen sagt, Ihr habt bestanden. Der eine braucht einen NC, dem anderen reicht ein "Bestanden". Könntet Ihr Euch eine Schule ohne Noten vorstellen?

Jonas: Na ja, es gibt bei Schülern den Drang, sich zu vergleichen. Aber das System sollte individueller sein, es müsste mehr Feedback im Gespräch geben, es darf nicht heißen: Ok, wenn du eine Eins hast, bist du schlau, mit einer Drei bist du dumm. Aber ich finde, Noten haben zu wenig Aussagekraft. Wenn Noten nicht diese Wichtigkeit hätten, wäre viel gewonnen.

Clara: In manchen Fächern wie Kunst oder Sport sind Noten einfach unfair, weil man für seine Unsportlichkeit doch einfach nichts kann.

Jonas: Jedenfalls sind die Noten schuld daran, dass so viel auswendig gelernt wird. Behalten kann man das doch alles nicht.

Till: (nickt bestätigend) Ich weiß jetzt schon nicht mehr, wie man eine E-Funktion ableitet.

Clara: Das ist schneller weg als man schauen kann, aber Fleiß wird oft mehr belohnt als wirkliches Interesse an einem Fach.

Abiturienten diskutieren über Schule mit SZ-Mitarbeitern. (v. l.) Serafine Dinkel, Till Bickhardt, Franziska Decker, Jonas Glaser. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

In manchen Landkreisen um München gehen 60 Prozent der Grundschüler aufs Gymnasium, es wird immer mehr zum Maß aller Dinge. Ist das Modell Gymnasium so noch tragbar?

Jonas: Ich denke, dass es eine komplette Reform des Schulsystems braucht. Dass schon in der 4. Klasse entschieden wird, ob der eine schlauer ist als der andere, ist der Horror. Und im Gymnasium wird dann viel zu wenig individuell gefördert. Es ist ja nicht so, dass es nicht alternative Modelle gäbe. In Skandinavien sind die Schüler bis zur Zehnten zusammen. An den Pisa-Studien sieht man, dass diese Konzepte auch funktionieren.

Till: Ich glaube auch, dass die strikte Trennung nach der 4. Klasse nicht das Sinnvollste ist. Man sollte Wege finden, Schüler mit demselben Niveau in einem Fach zu fördern, sonst bremsen die Schwachen die Starken; umgekehrt bleiben die Schwachen hinten. Ob man das in einer Gesamtschule besser machen kann, müsste man erarbeiten.

Wäre es besser, sich im Gymnasium früher und stärker spezialisieren zu können, so wie es im G 9 der Fall war?

Jonas: Naja, manche wissen ja sehr früh, wo sie einmal hinwollen, aber manche gar nicht. Man sollte dem Schüler die Entscheidung überlassen. Aber die Grundkenntnisse müssen natürlich vermittelt werden. Rechnen sollte jeder können, aber ob er auch eine Funktionsableitung oder eine Lyrikanalyse drauf haben muss, ist fraglich.

Till: Man braucht eine Balance zwischen Allgemeinwissen und individueller Orientierung.

Franziska: In unserer Gesellschaft geht es immer mehr um Individualisierung - jeder trinkt einen anderen Kaffee, hat andere Vorlieben, da verstehe ich nicht, warum das in der Schule nicht auch geht. Ich finde, das G 8 ist ein Rückschritt.

Till Bickhardt ist erst 17 und will nun ein einjähriges Studium Generale machen, um dann zu entscheiden, wo er hin will. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Clara: Das sehe ich auch so. Im G 9 hat man sein eigenes Lernkonzept zusammen stellen können. Ich finde, so jetzt ist es auch schwer für die Lehrer. So viele Dinge fallen hinten runter, weil es heißt: 90 Prozent von euch interessiert das ja eh nicht.

Jonas: Vor dem Lehrer sitzen Hochbegabte ebenso wie weniger Begabte zusammen im Frontalunterricht, da müsste viel mehr aufgegliedert werden.

Wie viele Klassenkameraden habt Ihr denn verloren seit der Fünften?

Till: Mindestens eine ganze Klasse ist aussortiert worden.

Franziska: Das reicht nicht. 60 Prozent etwa sind geblieben.

Clara: Das Problem verstärkt sich doch immer mehr. Als wir in der Grundschule waren, hatten noch nicht so viele Kinder Nachhilfe.

Woran liegt das? Werden zu viele Schüler links liegen gelassen?

Franziska: Ich habe das Gefühl, dass manche eher mitgeschleift werden. Ob es aber Sinn macht, mit einem 3,5-Abitur abzuschließen, glaube ich nicht. Stattdessen sollte man ihnen klar machen, wie viele Alternativen es gibt, etwas werden zu können, sogar zu einem Studium zu kommen. Aber eines der Grundprobleme ist doch das schlechte Image der Mittelschule.

Clara: Abitur ist mittlerweile völlig inflationär. Und wenn ich denke, wie viel Zeit und Geld manche Eltern in das Abitur ihrer Kinder investieren...

Till: Ich finde, dass gezielte Fördermaßnahmen im Gymnasium fehlen, das ist wohl einfach ein Personalproblem. Wenn in der Mittelstufe in den Förderstunden ein Lehrer auf 20 Schüler kommt, hilft das auch nichts. Schon in der Grundschule müsste sich da etwas ändern, gerade bei fremdsprachigen Kindern oder solchen aus bildungsfernen Schichten. Wenn man erst einmal beim Faust ankommt, dann ist es zu spät. Vielleicht wären Ganztagsklassen eine Lösung. Wenn die äußerliche Dreiteilung im Schulsystem weg wäre, würden auch die Vorurteile verschwinden.

Franziska Decker hält die diesjährige Abitur-Rede in Vaterstetten. Das G 8, findet sie, ist ein Rückschritt. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Was haltet Ihr vom bayerischen Konzept einer "Mittelstufe plus?"

Till: Das hilft gar nichts, so lange es bei der zweiten Fremdsprache schon in der sechsten Klasse bleibt. Da bleibt der Druck doch gleich.

Thema Druck: Wie ist das denn nun im G 8: Bleibt die Freizeit auf der Strecke?

Jonas: Bei mir nicht. Ich fand es eigentlich angenehm, an Tagen mit Nachmittagsunterricht keine Hausaufgaben zu bekommen. Frustrierend ist es nur im Winter, wenn du an einem Tag mit elf Schulstunden bei Dunkelheit das Haus verlässt und bei Dunkelheit auch wieder heimkommst.

Franziska: Ich habe den Vergleich mit Nachbarn, die noch im G 9 waren. Die waren nachmittags zu Hause. Bei uns fing der Nachmittagsunterricht schon in der fünften Klasse an. Da geht schon viel Freizeit verloren, und Freizeit ist ja auch Ausgleich und Stressabbau.

Clara: Aber es hängt ja auch von den persönlichen Zielen ab. Wenn man ein NC-Fach studieren will, dann setzt man sich eben auch mehr unter Druck.

Eine der Neuerungen im G 8 waren P- und W-Seminare, in denen man sich einem praktischen Projekt beziehungsweise einem Spezialgebiet in einem Fach widmen muss. Wie kam das bei Euch an?

Clara: Die P-Seminare sind eine gute Vorbereitung auf die Uni. Und doch geht es auch dabei für viele nur um die Noten, weil sie eben auch bewertet werden.

Jonas: Die P-Seminare sind ein Schritt in die richtige Richtung. Ich finde es ohnehin viel motivierender, bestimmte Dinge mit der Praxis zu verbinden, etwa Texte zu schreiben. Wenn ich einen Pressetext über mein Seminar schreiben muss, dann tue ich das viel lieber, als eine Lyrikanalyse zu verfassen. Das motiviert viel mehr.

Jonas Glaser ist aktiv in mehreren Schülerorganisationen. Er wünscht sich eine Schule, die mehr Freiheit bietet. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Franziska: Kann man auf Lyrikanalysen dann einfach verzichten?

Till: Ich finde, man sollte eine Lyrikanalyse schon einmal durchgemacht haben, den Prozess der Entstehung miterleben. Es geht doch auch darum, Dinge mal aus einer anderen Perspektive zu sehen, zum Beispiel Zeitgeschichte unter dem Aspekt der Veränderung der Sprache zu betrachten. Leider kommt so etwas gerade in der Oberstufe oft zu kurz. In der neunten Klasse hatten wir einmal creative writing, dafür war später nie mehr Zeit.

Clara: Sehe ich genauso. Außergewöhnliche Dinge wie ins Theater zu gehen fallen unter den Tisch, weil auch die Lehrer ständig den Notendruck spüren.

Jonas: Und darunter leidet die Motivation. Es wird einem viel zu viel aufgezwungen. Da kommt dann das berühmte Bulimielernen dabei raus. Und der Satz: Ich muss in die Schule, nicht ich darf. Dieser Satz ist eine Katastrophe für mich.

Wie könnte man das ändern?

Jonas: Schüler müssten von Anfang an mehr zu Eigeninitiative angehalten werden, von der ersten Klasse an lernen, nachzufragen, sich Hilfe zu holen. Als Schülersprecher lernt man so was.

Fühlt ihr Euch denn als Schülersprecher geschätzt? Hattet Ihr den Eindruck, etwas verändern zu können?

Jonas: Als Schülersprecher lernt man, dass man jeden Menschen ansprechen kann, sich auch mal beschweren kann. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man dann auch etwas erreicht.

Franziska: Aber wie viele sind schon Schülersprecher? Und hat man endlich etwas erreicht, hat man oft selbst nichts mehr davon.

Clara: Es kommt auch sehr schnell der Druck, wenn man den Mund aufmacht; die Angst, dass man dann eine schlechte Note bekommt. Es ist sehr schwer, sich zu beschweren.

Clara Storz hat sich einen Traum erfüllt: Sie hat die nötige 1,0 geschafft, um Medizin zu studieren. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Till: Als Schülersprecher wird man gehört, das sehe ich auch so. Und es gibt auch Lehrer, die wollen etwas hören, aber es gibt auch solche, die wollen das gar nicht. Man muss auf jeden Fall immer dankbar sein denen gegenüber, die sich jeden Tag bemühen und auch über den Unterricht hinaus.

Wie sollte also die perfekte Schule aussehen?

Jonas: Eine Gesamtschule, in der gleich starke Schüler zusammen gefördert würden, in der man sich den Stoff selbst aneignen sollte. Die Lehrer sollten keine "Beibringer", sondern Unterstützer sein. Also noch mehr Individualisierung als im G 9. Aber natürlich sollte ein gewisses Niveau an Wissen fürs Abitur erreicht werden.

Franziska: Schule sollte ein offener Raum sein, bei dem jeder auf seine Bildungskosten kommt. Die Leistung sollte weniger in Noten ausgedrückt werden, sondern mehr auf die Herausforderungen des Lebens vorbereiten und soft skills vermitteln.

Till: Sie sollte eine fundierte Allgemeinbildung vermitteln, aber auch den Raum für individuelle Interessen lassen. Man sollte Eigenverantwortung übernehmen aber nicht überfordert werden.

Clara: Ich finde es wichtig, dass Schule für die Schüler da ist. Die individuelle Entwicklung der Schüler sollte das Wichtigste sein.

© SZ vom 24.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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