Ebersberg:Der Panzer vor der Haustür

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"Wir wussten nicht, was ist": Brigitte Dinev erlebte als siebenjähriges Mädchen das Massaker von Poing und die steckbriefliche Fahndung nach ihrem Vater. Gesprochen wurde darüber in ihrer Familie nicht.

Von Isabel Meixner

Freiheit! Mit diesem Gedanken strömen am 27. April 1945 Hunderte KZ-Häftlinge aus einem Zug in Poing. Die SS-Schergen machen sich aus dem Staub, der Krieg ist vorbei, heißt es. Halb verhungert schleichen die Zwangsarbeiter die Hauptstraße hinauf. Einer steigt in den Garten der Familie Dinev, nimmt einen Hasen aus dem Stall - und isst ihn.

Brigitte Dinev, damals sieben Jahre alt, steht am Fenster. Sie hat Angst, wendet den Blick immer wieder ab, und doch siegt immer wieder die kindliche Neugier in ihr. "Wie Ameisen", wird sie später erzählen, verteilen sich die Häftlinge auf die Umgebung. Einheimische teilen ihnen Brot aus, Dinevs Mutter kocht Tee, mehr kann sie mit sechs Kindern im Haushalt den ausgemergelten Gestalten nicht geben. Der Mann ist noch an der Front.

"Wir hatten Angst. Für uns waren das Fremde", erinnert sich die 77-jährige Poingerin heute noch an jenen Tag, der in Poings Geschichte eingegangen ist. Und leider nicht als Tag der Befreiung der KZ-Häftlinge: Schon kurze Zeit später treiben die SS-Männer die Gefangenen zurück in die Viehwaggons, mit Motorrädern machen sie Jagd auf diejenigen, die versuchen zu fliehen. Schüsse fallen, 50 Menschen sterben, mehr als 200 werden verletzt. "Wir wussten nicht, was ist", berichtet Dinev. Irgendwann setzt sich der Zug, der als Todeszug in die Geschichte eingehen wird, wieder in Bewegung. Ziel unbekannt. Einigen Inhaftierten ist die Flucht gelungen. Noch Wochen später wird man Häftlingskleidung im Wald finden.

In Familie Dinev wird über das Geschehen nicht geredet. Brigitte Dinevs Mutter spricht nicht über den Krieg, und die Siebenjährige fragt nicht nach. "Meine Mutter war unpolitisch. Sie hatte genug damit zu tun, die Kinder zu ernähren." Brigitte Dinev und ihre Geschwister sammeln Beeren im Wald, helfen beim Ährenlesen, sammeln Holz.

Für die Familie ist der Zweite Weltkrieg mit einem sozialen Abstieg verbunden. Früher gehörten sie zur Oberschicht, nach 1945 wurden sie wie Aussätzige behandelt. Der Vater war NSDAP-Mitglied und unterstützte als Gaurichter das System, zumindest anfangs. Als er merkte, dass Hitlers Machenschaften für Deutschland nach hinten losgehen, habe er sich für die Front gemeldet, um nicht mehr Recht sprechen zu müssen, erklärt die Tochter. Nach Einmarsch der Amerikaner wurde er steckbrieflich gesucht. "Ich war zu klein, um die Tragweite zu begreifen", sagt Brigitte Dinev.

Doch die Folgen bekam sie zu spüren: "Wir sind in der Schule von anderen Kindern in die Ecke gestellt worden." Eine Zeitlang versteckt sich der Vater nach dem Fahndungsaufruf im Wald; schließlich wird er doch verhaftet und landet im Gefängnis. 1949 stirbt er an Tetanus.

Die US-amerikanischen Truppen rückten am 8. Mai 1945 in Poing ein, ein Panzer hielt direkt vor der Haustür der Dinevs. Kurz vor dem Einmarsch waren sämtliche Bilder aus dem Haus verschwunden. Der Tag der Befreiung brannte sich in ihr Gedächtnis ein: "Da habe ich das erste Mal einen Neger gesehen." Die Amerikaner hatten Bananen und Orangen dabei, "das kannten wir nicht". In dieser Zeit aß Brigitte Dinev erstmals Schlagsahne - bis dahin gab es ersatzweise nur Mondaminbrei. Ihr Gefühl gegenüber den Amerikanern? "Sie waren schon nett . . . aber sie waren halt die Sieger." Die Truppen richteten in der Waschküche der Dinevs ihren Lagerraum ein - sehr zur Freude von Brigitte Dinev, die dort immer wieder Essen herausstahl. "Wir hatten ja nichts", rechtfertigt sie sich heute.

Was sich sonst änderte mit dem Einmarsch? In der Schule zumindest wenig, sagt die Poingerin: Neue Bücher wurden ausgeteilt, die Lehrer blieben. Die Schüler mussten für die amerikanische Soldaten im Unterricht die Socken flicken; über den Krieg wurde aber nicht gesprochen, "wir kamen höchstens bis Bismarck".

Die Vergangenheitsbewältigung begann für Brigitte Dinev erst als junge Frau. 1961 geht sie als Au-Pair-Mädchen nach Frankreich, in die Stadt der Liebe nach Paris. Sie lebt bei einer sehr netten Familie, wie sie sagt - bis sie eines Tages die Großeltern besuchen und sich die 22-Jährige beim Abendessen alleine in der Küche sitzend wiederfand. Als sie nach dem Grund fragte, habe der Opa angefangen: "Ihr Deutschen . . ." "Das hat mich schockiert", gesteht die 77-Jährige. In der Situation reagierte sie taff: "Ich habe ihm gesagt, dass ich erst ein Jahr alt war, als der Krieg begann. Und außerdem, dass ich jetzt hier bin und etwas für die Völkerverständigung tue."

Ihre Geschichte hat Brigitte Dinev einmal vor Jugendlichen erzählt, in der Schule ihrer Enkelin war das. Ansonsten drängt sie mit ihren Erzählungen aber nicht ins Rampenlicht. Doch einmal im Jahr ist es ihr wichtig, Flagge zu zeigen: wenn Poing am Denkmal an das Schicksal der KZ-Häftlinge erinnert. Sie steht dann in einer Rednerliste mit den Menschen, die vor 70 Jahren halb verhungert an ihrem Elternhaus vorbeikamen.

© SZ vom 27.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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