SZ-Serie Sport im Ort: Folge 3:Der Kranich auf der Lichtung

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Langsam und konzentriert müssen die Übungen beim Qigong ausgeführt werden, hier eine Gruppe auf der Gymnastikwiese im Luitpoldpark. (Foto: Stephan Rumpf)

Ein Kurs der Volkshochschule kombiniert Walken und Qigong. Die wichtigste Anweisung der Kursleiterin: "Bloß nicht an den Alltag denken!"

Von Rita Baedeker, Ebersberg

Dass man als gesunder Erwachsener noch einmal das Gehen erlernen soll, erscheint zunächst absurd. Einen Fuß vor den anderen setzen, das kann doch jeder, oder? Der Kurs "Walken und Qigong" der Volkshochschule Ebersberg belehrt eines Besseren. Wer nur immer hetzt, um möglichst schnell von A nach B zu gelangen, macht sich kaum bewusst, was genau passiert, wenn man einen Schritt tut.

"Es gibt immer wieder Leute, die komisch gucken, wenn wir quasi in Zeitlupe unsere Übungen machen", sagt Kursleiterin Ulrike Rüd-Bschoch beim ersten Treffen am Wirtshaus "Zur Gass" am Egglburger See. Von Leistungswillen und Zeitnot getriebenen Mitmenschen mag es in der Tat seltsam vorkommen, dass man sich auch langsam bewegen kann. So wie bei Qigong. Manche denken bei diesem Begriff an Bilder chinesischer Studenten und Angestellter, die in Höfen und Parks in stiller Versunkenheit unsagbar lange auf einem Bein stehen oder ihre Arme gen Himmel recken.

Unter "Qigong" versteht man alle Übungen, die geeignet sind, so die Definition der chinesischen Medizin, die Lebensenergie Qi im Körper zu steuern. Qi ist nach chinesischer Überlieferung eine universelle Lebenskraft, die ständig in Bewegung ist. Qigong-Übungen, so wird vermutet, sind einst aus schamanischen Praktiken entstanden und mehr als 5000 Jahre alt. Wir, eine Gruppe Frauen, stehen fest im Hier und Jetzt oder vielmehr: sollten stehen. "Bitte jetzt nicht an den Alltag, an die Arbeit oder irgendetwas anderes denken", fordert Ulrike uns auf. Vielmehr sollen wir uns auf das Gehen konzentrieren, auf unsere Füße, auf den Kontakt zum Erdboden, das langsame Abrollen der Fußsohlen, die Länge und Frequenz der Schritte, wir sollen beobachten, wie sich Bauch und Becken dabei bewegen, was der Atem macht. Ziel ist die innere Leere, eine Stille, die Voraussetzung ist, um in den Körper hineinzuspüren. Und siehe da! Mit ein bisschen Übung klappt das auch.

Wir entdecken die Langsamkeit, dürfen aber auch Tempo machen. Denn bei diesem Kurs wurden die Disziplinen Qigong und Walken kombiniert: Sportmediziner bezeichnen Walking als "forciertes Gehen". Walken, so steht es in der Kursbeschreibung, soll eine Verbesserung der Koordinationsfähigkeit, eine bessere Dehnfähigkeit und eine Stärkung des Herz-Kreislauf-Systems bewirken. Integrierte Atem- und Bewegungsübungen aus dem Qigong sollen zudem Spannungen lösen und zu einem besseren Wohlbefinden verhelfen. Die Wege rund um den See und durch den Wald sind dafür ideal, auch wegen der beruhigenden Wirkung der Natur.

Fürs Qigong suchen wir eine verborgene, idyllisch gelegene Lichtung mitten im Wald auf. Hier entdecken uns höchstens Waldvögel und Mückenschwärme. Und hier scheint ein ums andere Mal ein geheimnisvoller Zauber zu wirken. Sobald wir einen Kreis gebildet haben und mit der Übung "Wolken wegschieben" beginnen, klart der Himmel über unseren Köpfen auf, auch wenn sich ringsherum schwarze Gewitterfronten zusammenballen. Das Wegschieben der Wolken geht ganz einfach. Die Arme von unten in die Höhe strecken und mit nach außen gerichteten Handflächen und viel Körperspannung intensive Schiebebewegungen nach beiden Seiten ausführen.

Das betont langsame Tempo beim Üben steigert die Wahrnehmungsfähigkeit ungemein. Auf einmal spürt man, dass man auf dem einen Bein länger stehen kann als auf dem anderen, dass die eine Hüfte beweglicher ist als die andere, allerlei Befindlichkeiten treten zutage, die man bei schnellen Sportarten nicht wahrnimmt. Schmerz und Muskelkater treten beim Qigong erst gar nicht auf, weil jede Bewegung behutsam erfolgt. Ulrike Rüd-Bschoch schaut, dass wir Nacken und Schultern nicht verkrampfen und uns nach dem Beugen nie abrupt, sondern allmählich, Rückenwirbel für Rückenwirbel, aufrichten.

Qigong verbessert nicht nur Konzentration und Haltung, sondern regt auch das Vorstellungsvermögen an, denn viele der Übungen tragen bildhafte Namen. Etwa die die Elemente repräsentierenden Figuren Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser. Der "Kranich", der das Gleichgewicht trainiert, weil man dabei länger auf einem Bein steht, ist in der ostasiatischen Mythologie und Volkskunst eines der Symbole für langes Leben, Glück und Treue. Und in dem poetischen Titel "Der Affe bietet seine Früchte an" ist quasi schon die Anleitung enthalten.

Bei jeder dieser Übungen erfährt man den Kontrast zwischen konzentrierter Körperspannung, die nichts mit hechelnder Anstrengung gemein hat, und Sanftheit, die alles andere als schluffig oder nachlässig ist. Die Zeit bleibt stehen, das Koordinatensystem verschiebt sich zugunsten einer ebenso entspannenden wie belebenden inneren Ruhe. Und das neue Gehen? Das wird von nun an zur täglichen Routine.

© SZ vom 19.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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