SZ-Serie Teil 2: Wohnen für alle:Aus der Not geboren

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Seit bald 70 Jahren bringt die Ebersberger Wohnungsgenossenschaft Menschen in eigene vier Wände. Ihre Geschichte ist auch eine Sozialgeschichte des Landkreises.

Von Wieland Bögel, Ebersberg

Endlich raus aus der engen Gemeinschaftsunterkunft, endlich eine eigene Wohnung, etwas Privatsphäre, ein wenig Lebensqualität. Diesen Wunsch hegten vor 70 Jahren viele Menschen im Landkreis Ebersberg, Einheimische, deren Häuser im Krieg zerstört wurden genauso wie die vielen Flüchtlinge, welche ihre Häuser zurücklassen mussten. Besonders für Letztere war die Situation schlecht, Tausende Aussiedler waren im Landkreis gestrandet, sie lebten in Baracken, Lagern, schäbigen Unterkünften. Im Jahr 1946 ging eine Schätzung von etwa 10 000 fehlenden Wohnungen im Landkreis Ebersberg aus.

Es war zunächst die "Aktive Flüchtlingshilfe Ebersberg", die diese Zustände ändern wollte. Der Verein brachte etwas auf den Weg, wovon die Menschen im Landkreis bis heute profitieren: die Wohnungsgenossenschaft Ebersberg. Diese wurde vor fast genau 69 Jahren, am 30. August 1947 gegründet, und war, wie es die Festschrift zum 50. Geburtstag stolz vermerkt, ein Abbild der Gesellschaft.

Die Gründungsmitglieder, 55 Frauen und Männer, stammten aus "allen Berufsschichten - vom Unternehmer bis zum Hilfsarbeiter", es waren Einheimische genauso dabei wie Flüchtlinge. Erster Aufsichtsratsvorsitzende wurde der damals bereits 73-jährige Eduard Paul, wohl nicht zuletzt aufgrund seiner Erfahrung: Paul hatte als Gewerkschafter im Eisenbahnverband bereits eine Siedlung für Bahnmitarbeiter aufgebaut. Und auch der neuen Aufgabe widmete sich Eduard Paul unermüdlich: Bis zu seinem 85. Lebensjahr blieb er Vorsitzender des Aufsichtsrates.

Hilfe aus der Politik

Auch wenn von den Genossen der ersten Stunde inzwischen keiner mehr lebt, gibt es noch Menschen, die sich an die Zustände kurz nach Kriegsende gut erinnern können. Einer von ihnen ist Horst Steuer, Jahrgang 1940 und selbst lange Zeit als Vorstand und Aufsichtsrat der Genossenschaft aktiv. Zwar war er noch sehr jung, als seine spätere Wirkungsstätte gegründet wurde. Warum dies aber nötig war, weiß er noch genau: "Die Gemeinden hatten irgendwelche Baracken, da sind die Flüchtlinge dann untergekommen."

Keine Situation, die sich eine Kommune auf Dauer wünscht, weshalb die Genossenschaft von Anfang an große Unterstützung aus der Politik erfahren hat. Allen voran Landrat Alois Kessler, der dem ersten Aufsichtsrat angehörte. Er sorgte auch dafür, dass der Landkreis die Kosten für Personal und Geschäftsräume übernahm. "Gemeinden und die Bürgermeister waren auch dabei", sagt Steuer, "sie wussten natürlich am besten, wo Bedarf war."

Die Kommunen halfen der Genossenschaft auch beim Erwerb von Bauland. Zum heute kaum vorstellbaren Schnäppchenpreis von 1,40 Mark pro Quadratmeter konnte das erste Grundstück erstanden werden, in anderen Fällen einigte man sich auf Erbpacht-Lösungen, es gab Darlehen vom Staat, dem Landkreis, den Gemeinden - vor allem aber viel Pragmatismus. "Früher war das Bauen nicht so kompliziert", erinnert sich Steuer, was wohl auch der Notwendigkeit geschuldet war: "Die Leute haben dringend eine Wohnung gebraucht, die Gemeinden wollten die Leute dringend unterbringen."

Wohnraum für die ersten 18 Familien

Knapp drei Jahre nach der Gründung konnte die Genossenschaft einen Erfolg feiern: Im Oktober 1950 war das erste Bauprojekt fertiggestellt, 18 Familien konnten ihre neuen Wohnungen in der Markt Schwabener Loderergasse beziehen. Im Folgejahr war dann Ebersberg an der Reihe, auch hier, am Kurt-Rohde-Platz, entstanden 18 Wohnungen für Familien. Noch heute sind die beiden Kommunen - in denen bei Kriegsende besonders viele Flüchtlinge unterkamen - der Schwerpunkt der Genossenschaft: Diese verfügt derzeit über insgesamt 618 Wohnungen in 47 Gebäuden, davon stehen zehn in Markt Schwaben, wo es 186 Genossenschaftswohnungen gibt, in der Kreisstadt sind es 163 Wohnungen in 13 Gebäuden.

Zuständig für diesen nicht gerade kleinen Immobilienbestand ist Ulrich Krapf, er ist seit 15 Jahren Vorsitzender des Vorstandes der Genossenschaft. Und sein Aufgabenbereich wächst ständig - im wahrsten Sinne des Wortes - denn der Bestand an Genossenschaftswohnungen nimmt stetig zu, und dieses Wachstum geht immer schneller. Grund ist natürlich die aktuelle Wohnungsknappheit in der Region.

Da wenden sich viele Gemeinden an die Genossenschaft, sagt Krapf, wenn sie sehen, dass es bei ihnen langsam eng wird, mit bezahlbaren Wohnungen. Erst kürzlich habe man wieder das Personal aufgestockt, und auch an den Geschäftszahlen lässt sich das Wachstum gut ablesen: Betrug die Bilanzsumme im Jahr 2000 noch knapp 23 Millionen Euro waren es 15 Jahre später bereits 44,5 Millionen.

Trotzdem werde die Genossenschaft bei allem Einsatz nicht die Wohnungsprobleme des Landkreises lösen können, gibt sich Krapf realistisch. Derzeit sei man in der Lage, zwei bis drei Projekte im Jahr umzusetzen, jedes in einer Größenordnung von zehn bis 20 Wohnungen. Denn darauf legt man bei der Genossenschaft Wert: Man möchte keine anonymen Großsiedlungen sondern "viele kleine Einheiten", so Krapf, eben echte Wohnungen.

22 davon wurden vergangenes Jahr in Poing, neun weitere in Ebersberg fertiggestellt, demnächst sollen 16 Wohnungen in Markt Schwaben und zwölf in Kirchseeon übergeben werden, 19 weitere sind in Poing im Bau. Gebaut werden immer je zur Hälfte Wohnungen für Mieter der Einkommensstufe I sowie jeweils ein Viertel für die anderen beiden Einkommensstufen (s. Kasten).

Wo gebaut wird und wie viel, das hängt vor allem von den Kommunen ab. Manche waren von Anfang an dabei, erinnert sich Steuer, stellten Grundstücke und finanzielle Unterstützung bereit - andere nicht. Diese Hilfe für die Genossen war immer sehr unterschiedlich, so Steuer, "es ist eben auch eine politische Angelegenheit". So hätten besonders in den 1970er und 1980er Jahren manche Gemeinden ihre Unterstützung deutlich zurückgefahren, "da hat man schon manchmal betteln müssen".

Inzwischen hat jede Wohnung ein eigenes Bad

Anderswo - wie etwa Poing - seien erst in den vergangenen Jahren Genossenschaftswohnungen entstanden. "Bis heute gibt es Gemeinden im Landkreis, wo es keine einzige Sozialwohnung gibt", sagt Krapf. Er will die Kommunen aber nicht kritisieren, schließlich "gibt es so viele Aufgaben, und wenn der Haushalt enger gestrickt ist, dann muss man eben entscheiden".

Was Standards und Ausstattung betrifft, gibt es kaum Unterschiede zu Wohnungen kommerzieller Bauherren. Das war in der Anfangszeit noch anders, eine für eine vierköpfige Familie konzipierte Wohnung maß damals 47 Quadratmeter, das Bad befand sich im Keller und musste für alle Hausbewohner reichen. Die Zeiten sind natürlich längst vorbei, inzwischen hat selbstverständlich jede Wohnung ein eigenes Bad, und größer sind sie auch geworden:

Zwischen 50 und 70 Quadratmeter misst eine Genossenschaftswohnung im Durchschnitt. Neben ausreichend Platz und Sanitäranlagen ist in den vergangenen Jahren noch etwas anderes wichtig geworden: Barrierefreiheit. Jede neue oder renovierte Wohnung der Genossenschaft ist auch per Rollstuhl zu erreichen, Bäder und Türrahmen werden entsprechend eingebaut. Dies sei auch eine Vorgabe, "ansonsten gibt es keine Förderung mehr", sagt Krapf.

Wartelisten mit Genossenschafts-Mitgliedern

Aber auch aus einem anderen Grund ist Barrierefreiheit sinnvoll: Das Alter der Mieter steigt. Das liege natürlich am demografischen Wandel, also daran, dass der Altersdurchschnitt der Bevölkerung insgesamt zunimmt, sagt Krapf, aber eben nicht nur: "Die Altersarmut nimmt schon zu, es kommen verstärkt Senioren und fragen nach einer Wohnung."

Wer einziehen kann, darüber entscheiden Genossenschaft und Gemeinden gemeinsam. "Wenn etwas frei wird, auch wenn es keine Sozialwohnung mehr ist, reden wir zunächst mit der jeweiligen Gemeinde", erklärt Krapf. Dort gibt es Wartelisten auf denen Leute stehen, die bedürftig sind. Auch die Einkommensstufe entscheidet, wer eine Wohnung bekommt, und natürlich muss man Mitglied bei der Genossenschaft werden.

Wer als bedürftig galt und gilt hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer verändert. Waren es in den 1950er Jahren noch Flüchtlinge und Ausgebombte, kamen mit dem Wirtschaftswunder der 1960er die Gastarbeitern als Klientel hinzu. Noch ein Jahrzehnt später, als die Konjunktur wieder nachließ, waren es dann Menschen, die ihre Arbeit verloren hatten, die bei der Genossenschaft um eine Wohnung nachfragten. "Heute ist es ja fast schon der Mittelstand", sagt Steuer.

Ein Job ist keine Garantie mehr, um sich eine Wohnung leisten zu können

Denn im Großraum München, wo die Mieten stetig auf neue Rekorde steigen, ist ein Job längst keine Garantie mehr dafür, sich eine Wohnung leisten zu können - besonders wenn das Geld für mehrere reichen muss. "Es ist erschreckend, wie hoch der Anteil der Alleinerziehenden ist", sagt Krapf. Bei Neubauten plane man dies inzwischen sogar schon ein, ein Teil der Wohnungen sei vom Grundriss speziell für einen Erwachsenen plus Kind oder Kinder geeignet.

Dass der Genossenschaft die Arbeit ausgehen wird, damit ist dagegen in den kommenden Jahren nicht zu rechnen - im Gegenteil. Neben einer Kompensation für die sicher auch weiter steigenden Mieten, sieht Steuer noch eine weitere Aufgabe auf die Genossen zukommen: "Ich denke, dass die anerkannten Flüchtlinge auch irgendwann kommen werden" - schließlich müssten ja auch diese Menschen irgendwann einmal raus aus den Gemeinschaftsunterkünften.

© SZ vom 31.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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