Der Sport im Ort:Die Wunde nach dem großen Wurf

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Die Zeit der Siege und der Schmerzen ist vorbei. Heute trainiert Maximilian Forstmair andere Judoka, hier in der Sporthalle des TSV Grafing. (Foto: Christian Endt)

Maximilian Forstmair aus Grafing trainierte mit 17 Jahren auf Olympia-Anlagen für die Judo-Weltmeisterschaft. Doch was einst Spaß war, wurde irgendwann zur psychischen Belastung. Warum der 25-Jährige den Leistungssport aufgab

Von Theresa Parstorfer, Grafing

Die obere Hälfte seines rechten Ohrs sieht verschrumpelt aus, der Knorpel hat keine feste Struktur mehr, sondern zeichnet sich in kleinen Dellen durch die Haut ab. Blumenkohlohr wird diese Vernarbung unter Judo-Kämpfern genannt. Sie ist typisch, denn der empfindliche Knorpel der Ohren zerbricht schnell im intensiven Kontakt im Bodenkampf. Das Blumenkohlohr gilt deshalb als Zeichen für einen Judoka mit Kampf-Erfahrung.

Maximilian Forstmair hat diese Erfahrung. "Wenn man sieht, dass der Gegner dicke Ohren hat, weiß man, das wird hart", sagt er, und lacht. Manchmal bearbeiten Trainer die Ohren ihrer Schützlinge absichtlich mit den Fäusten, bis die Knorpel kaputtgehen. Er sagt das und lacht nicht mehr. Forstmair kommt aus Grafing, ist 25 Jahre alt, mehr als die Hälfte seines Lebens war es für ihn Alltag, auf eine Matte geworfen zu werden, werfen, und geworfen werden, blaue Flecken, Verletzungen, Schmerzen. "Damals war das alles absolut normal", sagt er. Heute kommt ihm das weit weg vor. Wie ein fremdes Leben. Vor vier Jahren hat er Judo als Leistungssport aufgegeben. "Was ich damals wegstecken konnte, erschreckt mich manchmal", sagt er, ein wenig nachdenklich.

Forstmair ist blond, blauäugig und sein Lachen steckt an, immer wieder kommt der bayerische Dialekt durch. Er sitzt in seinem Elternhaus in Grafing auf einem Lehnstuhl, wippt vor und zurück, umfasst die Knie mit den Händen oder verschränkt die muskulösen Arme hinter dem Kopf. Er erzählt, wie ihn seine Eltern, als er fünf Jahre alt war, ins Judotraining steckten, weil er "ein sehr aufgewecktes Kind und oft am Raufen gewesen war". Am Anfang hat das Training einfach nur Spaß gemacht, mit zehn Jahren fiel ihm auf, dass er "auf einmal alles gewann". Nach und nach entstand so eine Erwartungshaltung, ein Leistungsdruck, den er sich selbst machte. "Ich bin jemand, der, wenn er etwas macht, das auch richtig gut machen will", sagt Forstmair. "Immer der Beste sein." Er sagt das sachlich, keine Spur von Überheblichkeit. Eher wie die Schlussfolgerung eines langen Denkprozesses.

15 Jahre lang war Judo das Einzige, das wichtig war. "Ich habe mich schlicht für nichts anderes interessiert", sagt er. Mit elf wurde Forstmair in den Bayernkader aufgenommen, mit zwölf gewann er die Süddeutsche Meisterschaft, mit 13 trainierte er bereits seit eineinhalb Jahren auf den Olympiaanlagen in Großhadern, mit 14 nahm er an den ersten internationalen Turnieren teil - und gewann auch da jeden Kampf vorzeitig. Forstmair kämpfte, Turnier um Turnier, bei einem Europa-Cup sogar mit einer schweren Verletzung an der Wirbelsäule - und erreichte immer noch den dritten Platz. Im Halbfinale der Deutschen Meisterschaften wurde er von seinem "Erzfeind" geschlagen. "Da hab ich mit 17 Jahren im Arm meiner Mama geweint wie ein Schlosshund." Heute, sagt er, könne er darüber lachen, doch damals sei für ihn "eine Welt zerbrochen". 2009 dann der Höhepunkt: Da ging es nach Budapest, zur Judo- Weltmeisterschaft.

Sein Talent, seine Kraft, sein Biss, sein ewiger Drang zum Perfektionismus, das alles habe ihm immer wieder zum Erfolg verholfen, innen drin jedoch, sei er "schon sensibel" gewesen. Eine Eigenschaft, die im Judo keinen Platz hat. "Die Härte wird einem reintrainiert", sagt Forstmair.

Der Schmerz war normal, doch es gab noch einen anderen Teil in Forstmair, auch der gehört zu ihm: Die Nacht vor einem Turnier lag er wach. Wie gelähmt sei er am folgenden Tag oft gewesen, wenn er nach einer schlaflosen Nacht auf der Matte vor seinem Gegner stand. "Erst wenn es dann anstrengend wurde, konnte ich ausblenden, dass einem da alle zuschauen und einen Sieg erwarten", sagt er.

Irgendwann half aber auch das nichts mehr, denn irgendwann wurde das, was stets Spaß gemacht hatte - das Training - zur Belastung. "Man weiß, dass der Trainer sehen will, dass es die richtige Entscheidung war, dich in den Nationalkader aufzunehmen", sagt Forstmair. Sicherlich gäbe es da Sportler, die das "viel besser wegstecken. Vielleicht wäre ich erfolgreicher gewesen, hätte ich mich nicht so stressen lassen", sagt er und fügt hinzu, dass natürlich auch er nach außen hin gern mal den "harten Kerl" gegeben hätte. Innerlich sei er das aber immer seltener gewesen.

Bei all dem wurde der Leistungssport aber immer dominanter. Feiern oder gar Faulenzen - kein Platz bei acht Mal Training in der Woche, ebenso wenig wie für Schularbeiten. Mit 17 begann er dann, sich immer wieder zu fragen: "Warum tue ich mir das eigentlich an?". Als er mit 19 auf diese Frage keine Antwort mehr hatte, gab er das Leistungssportniveau auf. Wollte nach dem Abitur alles nachholen. Ein ganz normales Teenager-Leben. Freunde, Freiheit, keinen Alltag mehr, den seine Trainer für ihn durchplanten.

Doch an ein Leben anzuknüpfen, das er nie gehabt hatte, war schwer. Er fing ein Studium an, brach es ab. Die aufgenommen Ausbildung bezeichnet er als eine unglückliche Wahl. Der Beruf eines Bankkaufmanns habe nicht zu ihm gepasst. Die folgende Phase wurde zur schlimmsten seines Lebens, sagt er heute. Schlimmer als jeder Wurf auf die Matte, jeder zertrümmerte Knorpel oder Knochen, jede Niederlage. Zwei Jahre lang stand Forstmairs Leben völlig still. Heute weiß er, dass das Loch, in das er fiel, mit dem Sport zu tun hatte, mit der Einstellung, "dass alles was ich mache, sinnvoll und produktiv sein muss. Dass ich niemals schwach sein und mir niemals irgendwas vergeben darf". Auch damit, dass Judo für so lange Zeit einen so großen Teil seiner Identität ausgemacht hatte. Dass er ohne das Training, ohne die Wettkämpfe und die Bestätigung nicht einmal mehr sicher war, ob er überhaupt noch existierte.

Dass es ihm heute wieder besser geht, war ein langer, harter Weg, den er nicht noch einmal gehen möchte, nicht einmal weiß, ob er das könnte. Heute studiert er Holzbau, "was endlich das richtige ist." Seit ungefähr einem Jahr trainiert er auch wieder. Zum Spaß, zwei oder dreimal die Woche - und auch nicht mehr nur Judo. Hin und wieder trainiert er dafür andere Judoka beim TSV Grafing.

Trainingstag in der Grafinger Halle, wie selbstverständlich bewegt sich Forstmair barfuß über den Holzboden, während um ihn herum die Körper seiner Schüler auf den Matten aufschlagen. Jedes Mal ertönt dabei ein dumpfer Ton. Die Zahl ist ungerade, also kämpft Forstmair selbst mit, hält mitten in einer Drehung inne, erklärt dem Gegner, was verbessert werden kann. Gleichzeitig lacht er immer wieder dieses herzliche Lachen, wenn sein Partner versucht, ihm zwischen die Füße zu steigen oder wenn er sich mit ihm über den Boden rollt. "M. Forstmair. Germany" steht auf seinem Rücken, doch die Zeiten der großen Siege sind vorbei. Der Anzug ist wie sein Blumenkohlohr eine Erinnerung von damals, als Judo alles für ihn war. Heute erinnert ihn beides eher daran, dass es gut ist, dass es nicht mehr so sein muss.

© SZ vom 05.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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