Der Sport im Ort:Die mit dem Rad tanzt

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Körperspannung und ruhiges Treten sind Grundvoraussetzung für erfolgreiches Kunstradfahren. Die Steinhöriger Elite-Gruppe des RSV hat all diese Fähigkeiten zur Weltklasse gebracht. (Foto: Christian Endt)

Irmtraut Wirth, 77, trainiert seit 40 Jahren die Kunstradfahrer Steinhöring. Fünfmal war ihr Verein bereits Weltmeister. Am Samstag steht der nächste große Wettkampf an

Von Theresa Parstorfer, Steinhöring

Rückwärtsfahren gibt extra Punkte. Deshalb wird in der Steinhöringer Turnhalle an diesem schwülheißen Sommerabend nur dann vorwärts in die Pedale getreten, wenn es unbedingt sein muss. Moment - Rückwärtsfahren auf dem Fahrrad? Ja, das geht. Nötig ist dafür allerdings ein spezielles Kunstrad. Keine Bremse, besondere Gummischläuche und ein Lenker, der aussieht als hätte ein wütender Besitzer in kurzerhand umgedreht - das macht ein Rad zum Kunstrad.

Und davon gibt es in dieser Grundschulturnhalle jede Menge. Ein eigenes Sportgerätezimmer haben die Räder gar bekommen. Irmtraut Wirth öffnet das Tor und deutet auf den dahinter zum Vorschein kommenden Speichen-Wald. Räder in verschiedensten Größen. "Für die ganz Kleinen da und hier hinten die ganz großen", sagt sie mit einem verschmitzten Lächeln, das sie in den nächsten zwei Stunden noch öfter aufsetzen wird. Ihre dunklen Augen verschwinden dabei fast.

Irmtraut Wirth ist 77 Jahre alt, ihr Lockenkopf weiß, und auf alle diese Räder hat sie Kinder gesetzt und ihnen an den Sprossenwänden beigebracht, wie man vorwärts und rückwärts fährt. "Die Würmchen haben das immer ganz schnell raus", sagt sie. Sechs Jahrgänge von Kunstradfahrern, und vor allem -fahrerinnen, hat Wirth über all die Jahre trainiert. Fünfmal war ihr Verein Weltmeister, viermal Europameister. "Wenn ich eine Chronik machen würde, dann wären das insgesamt bestimmt um die hundert Titel", sagt Wirth. Das sagt sie so nebenher, als handle es sich um die Aufzählung einer Einkaufsliste. Ein bisschen lässt sie sich noch bitten, bevor sie zugibt: "Ja die Weltmeisterschaften in Malaysia oder Japan, das sind dann schon Highlights gewesen."

Die Hände in den Jeanstaschen macht sie sich auf den Weg zurück in den Hauptteil der Halle. Neun ihrer Mädels trainieren dort seit einer guten Stunde. Wirth selbst fährt nicht mehr, gibt kurze Anweisungen vom Rand aus. "Jetzt in den Kreisel." Manche Gesichter sind schon leicht rot, der ein oder andere Pferdeschwanz sitzt schon etwas schief, alle aber sind hoch konzentriert, die Arme ausgebreitet wie Flügel, viel mehr Spannung geht nicht.

Am Samstag fahren sie um sechs Uhr morgens auf die bayerische Meisterschaft nach Aschaffenburg. "Heute ist Generalprobe", sagt Wirth. Aus einem tragbaren Monster von CD-Player wummert poppige Discomusik. Dominanter ist allerdings das Schnurren der Reifen auf dem Hallenboden. Kein Quietschen, eher ein Rauschen. Denn Grundvoraussetzungen für erfolgreiches Kunstradfahren ist Körperspannung und gleichmäßiges Treten. Gleich danach kommt Koordination, aufeinander achten, synchron bleiben.

Die Steinhöringer haben es im Kunstradfahren mit all ihren Fähigkeiten in die Weltspitze geschafft. Katharina Gülich etwa besuchte die erste Klasse der Steinhöringer Grundschule, als sie sich zum ersten Mal auf ein Kunstrad setzte. 22 Jahre ist das mittlerweile her. Doch nach wie vor kommt sie dreimal in der Woche zum Training. "Wie Tanzen auf dem Rad", sei Kunstradfahren, die anderen acht jungen Frauen, die auf ihre Lenker gestützt in einem Halbkreis stehen, nicken zustimmend.

Das sei auch ihre Erklärung, wenn jemand keine Vorstellung davon hat, was ein Kunstradfahrer tut. Ob das oft vorkommt? Da lachen sie. Nicken. "Ohja", sagt Nicole Weichenhain, bevor sie sich mit Anlauf auf ihr Rad schwingt. Nicht nur auf den Sattel, sondern auf den Lenker, gefolgt von den speziellen Trittstangen am Vorder- und dann am Hinterrad. Das Rad dreht sich auf einem Reifen um sich selbst wie eine Ballerina im Pirouettenrausch. Wenn ihr das Gefährt entgleitet, landet die junge Frau einer Katze gleich, die Knie gebeugt auf dem Hallenboden. "Mist", sagt sie und hebt das Rad mit einer Hand wieder auf.

Vor 70 Jahren begann Irmtraut Wirth, 77, mit dem Sport. (Foto: Christian Endt)

Schwerfällig wirke so ein Rad auf den ersten Blick, sagt Wirth. Ihr eigener Blick ist auf die Sportlerinnen gerichtet, die gerade die "Steinhöringer Torfahrtmühle" üben. Von Schwerfälligkeit keine Spur, wie sich eine Radlerin nach der anderen durch die verschränkten Arme ihrer Kolleginnen schlängelt. Was allerdings stimme, sei, dass Kunstradfahren nach wie vor eine Randsportart ist. "Sogar manche Leute in Steinhöring wissen nicht, dass es uns gibt", sagt Wirth. Und das, obwohl eben die "Steinhöringer Torfahrtmühle", die sich der Verein selbst ausgedacht hat, international anerkannte Wettkampffigur ist.

Fünf Minuten Zeit gibt es für eine Kür vor Kampfrichtern. Möglichst viele Figuren fehlerfrei zu fahren, ist das Ziel. Da es um Punkte geht, macht es nichts, dass die Steinhöringer in manchen Disziplinen allein - ohne Konkurrenz - antreten. So speziell sind einige Konstellationen von "Einer Einrad", "Zweier Kunstrad" oder "Vierer und Sechser", erklärt Wirth. Aber nicht nur auf den WM-Titel, auch auf die anstehende bayerische Meisterschaft, gibt es einige Anwärter. Wirth zeigt eine Liste der Vereine, die antreten. "Die Herzogenauracher sind sehr gut", sagt sie. International ist die Konkurrenz aus der Schweiz groß.

Für die eigene erste Meisterschaft fuhr Wirth vor vielen Jahren bereits nach Bayern. Nach Passau. "Damals war das weit weg und sehr aufregend", sagt Wirth. Sie wuchs in einem kleinen Ort nahe Bremen auf. Mit sieben saß sie zum ersten Mal im Sattel. Ihr Vater war im Radsportverein, und "eigentlich haben wir das alle gemacht", sagt Wirth - also Kunstradfahren. Als sie 1964 wegen ihres Mannes nach Steinhöring kam, gab es noch nicht einmal eine Turnhalle. Doch an Kindern, die irgendwie bei ihr im Training landeten, mangelte es nie. Als dann die Turnhalle kam, war ein festes Zuhause geschaffen, für all die rückwärtsfahrenden Räder, die in den folgenden Jahren dazu kommen würden.

© SZ vom 21.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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