Besonderes Talent:A-Dur in Blau

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Ganz egal, ob ein Instrument Saiten oder Tasten hat - Amelie Sieben traut sich an alles heran. (Foto: Christian Endt)

Amelie Sieben aus Grafing hat das absolute Gehör. Das ist aber noch nicht alles: Die Neunjährige sieht Töne und Wörter in Farben

Von Carolin Schneider, Grafing

Amelie wächst zweisprachig auf. Sagt ihre Mutter. Die spricht zwar nur Deutsch mit ihrer Tochter und keine Fremdsprache, aber sie musiziert täglich mit ihr. "Und Musik ist wie eine Sprache, die man erwirbt", erklärt Carola Sieben. Sie ist Musikpädagogin und unterrichtet auch Amelie. "Als ich drei Jahre alt war, habe ich angefangen, Klavier zu spielen", erzählt das Mädchen. Jetzt, sechs Jahre später, spielt es zusätzlich Geige, Flöte und seit kurzem Cello. Schon wenn man vor dem Haus im Norden Grafings steht, hört man die Töne eines Klaviers. Amelie sitzt an dem Tasteninstrument und spielt mit geschlossenen Augen. Noten braucht sie meist keine - zumindest nicht mehr, nachdem sie das Stück zwei, drei Mal durchgespielt hat. Spätestens dann ist ihr die Musik ins Blut übergegangen. Kein Wunder, in solch einer Umgebung: Im Wohnzimmer stehen das Klavier und ein Cembalo. Auf dem historischen Instrument sind Flöten in allen Größen aufgereiht und überall liegen Koffer für Geigen und Celli herum. Ein Haus, in dem Musik gelebt wird.

"Schon meine Mutter hat Musikunterricht gegeben", erzählt Carola Sieben. "Sie hat auch mir alles beigebracht." Amelie saß schon mit zwei, drei Jahren auf dem Schoß der Oma und verbesserte die Schüler, die diese unterrichtete. "Meine Oma hat irgendwann gesagt, ich soll doch mal die Schüler ranlassen", sagt Amelie und lacht. Welche besondere Begabung in Amelie schlummerte, ahnte damals noch niemand. Darauf, dass die nun Neunjährige ein absolutes Gehör hat, kam Carola Sieben erst durch einen Zufall vor einiger Zeit. Sie spielte ihrer Tochter Töne auf dem Klavier vor - und Amelie benannte jeden einzelnen richtig. Heute wirkt das wie ein einstudierter Trick: Carola Sieben spielt Töne auf dem Klavier, Amelie benennt sie, sofort und ohne nachzudenken, fast schon gelangweilt, aber immer genau richtig. Menschen, die ein absolutes Gehör haben, können einen Ton genau bestimmen, ohne davor einen Bezugston gehört zu haben. Außerdem erkennt Amelie, in welcher Tonart Vögel zwitschern oder ein Handy klingelt.

Amelies kleine Schwester Marie bringt ihr eine Flöte. "Amelie, spielst du mal den Specht?", bittet die Dreijährige. Amelie nimmt die Blockflöte und spielt kurze Töne schnell hintereinander. "Jetzt kommt der Kuckuck", ruft Marie und freut sich, als Amelie mit der Flöte den typischen Ruf des Vogels nachahmt. Schließlich stößt Amelie einen langen schrillen Ton aus. "Das war die Krähe", sagt Marie und lacht. Carola Sieben will, dass es den Mädchen Spaß macht, ein Musikinstrument zu lernen. Deshalb lehrt die Mutter und Lehrerin auf spielerische Art und Weise: Sie lässt ihre Schüler ein Duett als Streitgespräch spielen, springt mit ihnen bei fröhlichen Liedern auf und ab und schleicht durch den Raum, wenn geheimnisvolle, leise Stücke geprobt werden. Aus "piano" wird "behände wie eine Katze", aus "staccato" wird "gestochen wie ein Specht". "Die Kinder verstehen dann viel besser, was ich meine", erklärt Carola Sieben. So ist es ihr auch gelungen, ihre Tochter Amelie bestens auf die "Jugend musiziert"-Wettbewerbe vorzubereiten. Bei ihrer ersten Teilnahme war Amelie gerade einmal fünf Jahre alt und gehörte damit zu den jüngsten Teilnehmern. Doch immer schaffte sie es auf einen der vorderen Plätze. "Obwohl sie immer erst kurz vor knapp anfängt, zu üben", sagt die Mutter, beinahe mahnend. Amelie lächelt über diesen Satz nur, wahrscheinlich weil sie ihn schon so oft gehört hat.

Amelie ist ein ruhiges Kind, sie lächelt viel und erzählt mit leiser Stimme. Außerdem beschreibt sie sich selbst als emotional. Als sie das erste Mal mit ihrer Mutter eine Ballettaufführung angeschaut habe, habe sie angefangen zu weinen - "weil es so schön war", sagt sie. Die Szene habe sie in Himmelblau gesehen, obwohl die Tänzer weiße Kostüme trugen.

Amelie hat nämlich nicht nur ein perfektes Gehört, sondern auch die Fähigkeit, Töne oder Wörter in Farben zu sehen. Unter Synästhesie versteht man die Verschmelzung zweier Wahrnehmungen, etwa von Hören und Sehen. "Ich dachte immer, das ist total normal", erzählt Amelie. Aber dem ist nicht so - in ihrer Familie ist sie die Einzige, die mit Tönen und Wörtern Farben verbindet. Erklären, warum die Wörter eine bestimme Farbe haben, ist schwierig, es folgt auch keiner Logik: Den Montag sieht Amelie in Rot, den Dienstag in einem freundlichen Orange-Gelb, Samstag und Sonntag, die eigentlich Freude machen, weil frei ist, sind für sie schwarz-grau.

"Manchmal ist es auch ein Nachteil, die Wörter in Farben zu sehen", erzählt Amelie. In der Schule zum Beispiel. Denn die beiden Wörter "Verb" und "Wiewort" sind für sie gelb - beschreiben aber jeweils andere Wortgruppen. "Da komme ich einfach immer durcheinander", so die Neunjährige.

Schon als kleines Kind habe Amelie jedes Familienmitglied immer in der gleichen Farbe gemalt, erzählt Carola Sieben. Damals habe sie sich noch keine Gedanken darüber gemacht, aber es könnte tatsächlich schon ein Hinweis auf die Synästhesie gewesen sein. Nachdenklich schaut Carola Sieben ihre Tochter eine Weile an. Die zuckt nur mit den Schultern. "Ja, Papa ist halt schwarz", sagt sie dann. So als gäbe es auf dieser Welt nichts, das selbstverständlicher wäre. Und schwarz ist schließlich auch der Sonntag.

© SZ vom 21.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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