Archäologische Staatssammlung:Berge von Scherben in Baldham

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Besuch bei 45 000 stummen Zeitzeugen des Projekts "München-Marienhof": Die Ebersberger Archäologin Eleonore Wintergerst und ihre Kolleginnen untersuchen und katalogisieren im Thorak-Gebäude Artefakte aus Keramik und Stein

Von Michaela Pelz

Zahllose Familien haben in den vergangenen Monaten die Faszination des Puzzlens wiederentdeckt, sich vielleicht sogar an die Herausforderung des 40 320-Teile-Kartons eines großen deutschen Spieleherstellers gewagt. Eine, die für solche Herausforderungen prädestiniert scheint, ist Eleonore Wintergerst. Doch auf die Frage, wie schnell die Archäologin mit Spezialgebiet Keramik ein 1000er-Puzzle zusammensetzen könne, lacht sie und sagt: "Gar nicht, weil mir dafür die Geduld fehlt und der Sinn nicht ersichtlich ist." In der Tat ist ihr Tun im Beruf sehr viel zielgerichteter: Zwar beschäftigt sich die Ebersbergerin fallweise ebenfalls mit sehr kleinen Teilen, die aber eine große Geschichte erzählen. Die SZ durfte sie an ihrem für die Öffentlichkeit eigentlich unzugänglichen Arbeitsplatz in Baldham besuchen.

Geschichtsträchtige Scherben. (Foto: Christian Endt)

Dort, im legendären Speer-Bau, einer Außenstelle der Archäologischen Staatssammlung, hat sich an diesem Tag auch Brigitte Haas-Gebhard eingefunden. Die Leiterin der Abteilung Mittelalter/Neuzeit ist zusammen mit Elke Bujok verantwortlich für das Forschungsprojekt "Archäologie München", mit dessen Funden sich Wintergerst derzeit beschäftigt. Zur Erinnerung: Anlässlich des Baus der zweiten Stammstrecke wurden 2011/2012 und 2017 bis 2019 am Münchner Marienhof Grabungen durchgeführt. Dieses Gebiet hinter dem Rathaus, zwischen Dallmayr und FC-Bayern-Welt, das 1945 dem Erdboden gleich gemacht wurde, war die größte zusammenhängende, noch nicht untersuchte archäologische Fläche der Landeshauptstadt. Seit 2014 sind nun unter Federführung der Archäologischen Staatssammlung diverse Partner am Werk, das, was dort und an weiteren 250 Stellen in der Altstadt gefunden wurde, wissenschaftlich zu bearbeiten und der Öffentlichkeit vorzustellen - bis zunächst 2023 finanziell gefördert durch die Stadt München. Diese gelangt so immer wieder zu überraschenden Erkenntnissen: Eine der gefundenen Scherben stammt definitiv von einem Knickwandtopf aus dem 7. Jahrhundert - also lange vor der Stadtgründung 1158.

Inventarisierte Fundstücke. (Foto: Christian Endt)

Nun lagern also mehr als 45 000 Marienhof-Objekte unterschiedlicher Größe im früheren Atelier des für seine monumentalen Werke bekannten Bildhauers Josef Thorak. Immer wieder einmal wurde überlegt, aus dem Gebäude mit der wechselvollen Geschichte ein Museum zu machen. Schließlich war der Bau, nach der dort am 5. Mai 1945 unterzeichneten Kapitulation, schon Offizierskasino, Schule, Filmset und Opernkulissenlager. Doch in dieser Sache ist noch nichts entschieden, darum dient das Thorak-Haus seit 1989 nach wie vor als archäologisches Depot.

Im Thorak-Bau in Baldham betreut Archäologin Eleonore Wintergerst die Arbeit rund um die Scherben aus dem Münchner Marienhof. (Foto: Christian Endt)

18 Meter hoch ist die hinter imposanten Torflügeln gelegene "große Halle" mit Glasdach - kommt allerdings zunächst ungefähr so charmant wie eine Mischung aus Baumarkt und Großhandelslager daher. Kein Wunder, angesichts der dicht an dicht gereihten Hochregale im Erdgeschoss, dem "Schwerlastbereich", gefüllt mit mehr als 300 Paletten voller Steinobjekte wie Bauteile und Grabsteine.

Hat man über die Stahltreppe aber erst einmal die zweite Etage der fünfgeschossigen Anlage mit ihren gut 9 300 Regalmetern erklommen, eröffnet sich beim Blick in eine der dort lagernden Kisten ganz neue Welt. Freilich erst nach fachkundiger Erklärung durch eine der beiden Expertinnen - Laien sehen zunächst nur einen Haufen Scherben. Wintergerst hingegen kann anhand eines simplen Fragments wie aus der Pistole geschossen sagen, aus welcher Zeit das entsprechende Gefäß stammt, welchem Zweck es diente und wer - Bauer, Bürger, Edelmann - es einst wohl benutzt hat. So wird Geschichte in der Tat lebendig. Die breite und vielfältige Darstellung des Alltags in früheren Zeiten ist auch das erklärte Ziel der Archäologischen Staatssammlung in der Münchner Lerchenfeldstraße, wo den Marienhof-Funden nach der für 2022 geplanten Wiedereröffnung ein ganzer Raum gewidmet werden soll.

Jedes noch so kleine Fragment wird dabei mit einer Inventarnummer gekennzeichnet. (Foto: Christian Endt)

Bis dahin wird es, wie schon in den vergangenen Jahren, an verschiedenen Orten stattfindende "Pop-Up"-Ausstellungen geben. So waren einmal im Schaufenster eines Münchner Fachgeschäfts aus Lederresten rekonstruierte oder vollständig erhaltene Schuhe aus dem späten Mittelalter zu bewundern und auch im Infozentrum der Deutschen Bahn am Marienhof wird immer wieder eine neue Auswahl von Fundstücken gezeigt. Solche spannenden Exponate gibt es aber nur, weil die tiefen Schächte in der Innenstadt einst als Abfallgruben, Latrinen und Brunnen genutzt worden waren. Dank des feuchten Klimas überdauerten dort auch Leder- und Holzteile, die sonst oft zerfallen. Solche und andere empfindlichen Materialien sind für die Lagerung in Baldham jedoch nicht geeignet. Weil die Räumlichkeiten aufgrund ihrer Größe und alten Bausubstanz nicht richtig klimatisiert werden können, bewahrt man dort vor allem Keramikscherben, Steinwerkzeuge, Ziegel, Dachziegel und große Steinobjekte auf.

Das ist jedoch immer noch mehr als genug, zumal es sich nicht nur um Funde aus München, sondern aus ganz Bayern handelt; allein im Keller befinden sich weitere 11 000 Kisten, die je nach Inhalt bis zu 25 Kilo wiegen können. Und da 55 Prozent der knapp 7 300 Regalfächer der Baldhamer Anlage bereits belegt sind, schätzt man, dass es in spätestens fünf Jahren gar keinen Platz mehr dort geben wird.

Doch warum macht man sich überhaupt die Mühe, all diese Gesteinsbrocken, Glas- und Keramikscherben, sogar Obstkerne zu verwahren, nachdem jedes einzelne Stück mit der gleichen Sorgfalt und Aufmerksamkeit akribisch katalogisiert wurde? Ganz im Gegensatz zu früher, als manchen archäologischen Einzelfunden keine besondere Bedeutung beigemessen wurde. Die Antwort liegt in der Tatsache, dass die Arbeit, für welche alle Beteiligten erkennbar brennen, nicht nur rückwärts-, sondern auch vorwärtsgerichtet ist. Auf jenen Moment nämlich, an dem in fünf, zehn, vielleicht aber auch fünfzig Jahren Studierende mit neuen Fragen und ganz neuen Methoden Rückschlüsse auf das Leben in der Vergangenheit ziehen wollen. Dann wird es entscheidend sein, dass all jene Funde in Tüten und Kisten, von denen es nur ein Bruchteil ins Licht der Öffentlichkeit schafft, noch vorhanden - und vor allem auch auffindbar - sind. Und sicher ist: Dabei handelt es sich um mehr als 40 320 Teile.

Weitere Informationen: www.archaeologie-bayern.de

© SZ vom 04.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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