Anzing:Geschichten mit Meterstab

Lesezeit: 2 min

Jörg Baesecke beschwört eine Welt aus Poesie und Papier. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Gelungener Auftakt bei "Kultur und Mehr im Café"

Von Christian Endt, Anzing

"Und dann kam das Hähnchen Goldkämmchen an einen Fluss", sagt Jörg Baesecke und zieht schnell an dem Maßband, das er sich aufgerollt am Hosenbund befestigt hatte. Er liest die Skala ab. "Aha, einen Meter dreiundfünfzig ist der Fluss heute breit." Und weil das Hähnchen so einen breiten Fluss nicht überqueren kann, überredet es jenen kurzerhand, doch einfach mitzukommen auf die Reise. Der Wasserlauf ist einverstanden. Baesecke rollt sein Maßband wieder ein.

Wenn Jörg Baesecke "die Geschichte vom Hähnchen Goldkämmchen, der wunderbaren Handmühle und dem Eichbaum, der bis in den Himmel gewachsen ist" erzählt, kommt dabei nicht nur ein Maßband zum Einsatz, sondern auch drei verschiedene Meterstäbe. Die faltet er in die Formen aller anderen Charaktere des russischen Märchens: das Hähnchen, das Haus, die Eiche, den Fuchs, die Handmühle.

Der Pullacher Künstler Jörg Baesecke, der sich selbst als Geschichtenerzähler und Miniatur-Theaterspieler beschreibt, bestreitet mit seiner "Kleinsten Bühne der Welt" die Auftaktveranstaltung der neuen Reihe "Kultur und Mehr" im Anzinger Gemeindecafé. Ausgedacht hat sich das Axel Jühne, der im Anzinger Pfarrgemeinderat sitzt und den Abend eröffnet. Er sei mit der Idee zu Claudia Pfrang gegangen, der Geschäftsführerin des katholischen Kreisbildungswerks: "Man könnte doch mal. . . " Die habe ihn sofort korrigiert und gesagt: "Man könnte nicht, man kann. Und wir machen." Alle zwei Monate soll es zu Beginn eine Abendveranstaltung zu "Kultur und mehr" geben. Der Titel der Reihe deutet bereits auf ein breites Themenspektrum hin. So folgt auf das Miniaturtheater im November eine Lesung über Einsamkeit und im Januar ein Vortrag zu den Wechseljahren. "Wir haben nicht den Anspruch, eine Konkurrenz zu München zu sein", sagt Jühne im kleinen Gemeindecafé, das mit den gut zwanzig Gästen schon ordentlich gefüllt ist, "wir wollen einfach mit dem, was wir haben, etwas machen."

Freilich steht in Anzing kein Staatstheater, aber Baeseckes Auftritt ist ein beeindruckender Auftakt. Er bedient sich Märchen, Sagen und Klassikern der Literatur. Mit den sprecherischen und mimischen Mitteln des Schauspielers und Hilfsmitteln wie Papier und Stift, Schnüren oder einem Laserpointer begeistert er sein Publikum für die kurzen Stücke. Baesecke strahlt dabei eine unglaubliche Spielfreude, ja Leidenschaft aus. Er scheint selbst fast zu platzen vor Freude über seine Geschichten und die kleinen Scherze, die er einwebt. Ein Höhepunkt ist Theodor Fontanes "Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland". Zu diesem Gedicht nimmt er ein Buch in die Hand, bei dem er zu jedem Vers eine neue Seite aufschlägt. Mal ist eine gemalte Birne zu sehen, mal schwarz auf weiß die Silhouette von Ribbeck oder dessen Grab. Das überwiegend im Rentenalter verortete Publikum kann viele Zeilen auswendig mitsprechen.

Am Ende gibt es viel Applaus für Jörg Baesecke, der aber auch Initiator Jühne gilt. Der Gemeinderat wirkt zufrieden mit der Premiere von "Kultur und Mehr". Als Nächstes liest Maximilian Dorner am 12. November.

© SZ vom 26.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: