Adventskalender der SZ:Plötzlich alles ganz anders

Lesezeit: 3 min

Eine Hormonbehandlung löst bei einer jungen Frau eine schwere Depression aus. Heute steht sie vor dem Nichts

Von Franziska Langhammer, Ebersberg

Wer nur eine kleine Rente bekommt, kann sich oft nichts Neues zum Anziehen leisten. (Foto: Christian Endt)

Anna B. erinnert sich noch gut an ihr schönes Leben. Sie hatte zwei Töchter, ein eigenes Kosmetikstudio, lebte in einer tollen Wohnung, war verheiratet. Doch dann, mit Mitte 30, musste sie sich einer Operation unterziehen - die gar nicht notwendig gewesen wäre, wie sich im Nachhinein herausstellte. Und dieser Eingriff änderte alles.

In den drei Monaten nach der OP bekam Anna B., die im wahren Leben anders heißt, Hormone, 34 Spritzen insgesamt. Es folgte ein totaler psychischer Zusammenbruch. Anna B. verspürte aus heiterem Himmel ein Angstgefühl, das sie bisher nicht gekannt hatte. "Ich wusste nicht, was los ist mit mir", erzählt sie. "Ich dachte, ich drehe durch." Sie hatte Selbstmordgedanken, wollte sich vom Hochhaus stürzen. Eines Nachts setzte sie sich ins Taxi und ließ sich nach Haar fahren. "Ich glaube, ich bin verrückt", sagte sie zu dem diensthabenden Arzt. Nach einem langen Gespräch und vielen Untersuchungen entgegnet er ihr: "Nein, Sie sind schwer krank."

Bei Anna B. wird eine besonders schwere Form von Depression mit Angststörung fest gestellt, ausgelöst durch die Operation. Auch Traumata aus der Kindheit tauchen jetzt wieder auf, Gewalterfahrungen, auf die B. nicht näher eingeht. "Der Arzt hat mir gesagt, ihr Gehirn, ihre Psyche ist wie ein Puzzle", erzählt B. "Es ist runtergefallen, und jetzt müssen wir es Stück für Stück wieder zusammen setzen."

In den nächsten Jahren folgen Therapien verschiedenster Art. Immer, wenn Anna B. merkt, dass es nicht mehr geht, lässt sie sich in die Klinik einweisen. Ihr Mann kann nicht mit ihrer Depression umgehen. "Er hat die Fliege gemacht", formuliert es B. Auch die Freunde verabschieden sich nach und nach, es fehlt an Verständnis und Akzeptanz für die Krankheit. "Viele sagen: Mir ist es auch schon mal schlecht gegangen", erzählt Anna B. "Aber das ist was anderes."

Die ältere Tochter, damals schon erwachsen, kümmert sich um die jüngere, teils sind sie viele Wochen auf sich gestellt. "Es war auch für meine Kinder sehr schwer. Sie hatten plötzlich eine völlig andere Mutter", sagt B. Auch das Auto, das ihr immer ein Gefühl von Freiheit vermittelt hatte, muss sie aufgeben, genauso wie ihren Laden. Und das, obwohl sie ihren Beruf so gern gemacht hatte, sagt Anna B. "Diese OP hat mir alles kaputt gemacht." Sechs Jahre kann sie ihre Mutter nicht besuchen, die gut anderthalb Stunden Autofahrt entfernt wohnt. Ihre Angst hält sie davon ab, in die Bahn zu steigen.

Am Telefon klingt Anna B. erschöpft. Seit zwanzig Jahren nun kann sie sich nur noch durch die Tage hangeln; immer wieder erwähnt sie die Sozialpsychiatrischen Dienste im Landkreis, ohne den sie aufgeschmissen wäre. Auf die Frage, wie es ihr momentan gehe, sagt sie: "Gerade ist die Depression ziemlich heftig." Corona und die Geschehnisse der vergangenen Jahre haben ihre Ängste und Panikattacken noch verstärkt. Gerade die vergangenen zwei Jahre waren eine große Herausforderung für Anna B.: Acht Familienmitglieder sind gestorben, darunter ihre Mutter, ihr Bruder, ihre Stieftochter. "Meine Mama hatte Lungenkrebs, ich hab sie zu mir geholt", sagt B.

Ein Jahr lebt die schwer demente Mutter mit ihr in einer 40-Quadratmeter-Wohnung. Die Schmerzen sind so schlimm, dass die Mutter oft fürchterlich schreit. Als Anna B. mit den Sozialpsychiatrischen Diensten telefoniert, hört die Mitarbeiterin am anderen Ende der Leitung die Schreie der alten Frau und sagt: "Wir kommen jetzt sofort. Wir müssen Ihre Mutter in einem Heim unterbringen." Es sei ein sehr schweres Sterben gewesen, sagt Anna B. Als sie davon erzählt, dass ihre Tochter vor zwei Jahren beinah an einer Nierensepsis gestorben sei und nun einen Tumor an der Niere habe, bricht sie in Tränen aus. Gleich darauf entschuldigt sie sich und sagt: "Es ist verdammt viel."

Heute lebt Anna B. sehr zurückgezogen im nördlichen Landkreis. Etwas Durchatmen kann sie, wenn sie mit ihrem Hund im Wald spazieren geht. Oder wenn ihre Enkel sie besuchen; diese sind aber leider derzeit in Corona-Quarantäne. Ohne Medikamente gehe gar nichts mehr, sagt sie. Einmal habe sie versucht, diese abzusetzen; es folgte eine tiefe Talfahrt. Noch wichtiger sind für sie jedoch Gespräche, auch mit anderen Hundebesitzern, die wegen Corona leider seltener geworden seien. Anna B. bezieht eine kleine Erwerbsunfähigkeitsrente und bräuchte dringend neue Kleidung. "Früher hab ich oft gesagt: Ich weiß gar nicht, was ich anziehen soll - weil ich so viel hatte", sagt sie. "Jetzt hab ich leider gar nichts mehr."

© SZ vom 09.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: