Drogenotdienst L43:Ganz unten

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Wer hier aufläuft, ist ganz unten angekommen in der Gesellschaft: Der Notdienst L43 in der Landwehrstraße gibt Drogenabhängigen Halt und ein wenig Geborgenheit - und rettet vielen damit das Leben.

Sarah Ehrmann

Hanni hat die Augen eines Rehs, lauernd und furchtsam, irgendwie verletzt. Sie will gerne von sich erzählen, aber sie hat wenig Zeit, muss "Stoff aufstellen", Geld machen und Heroin oder andere Betäubungsmittel besorgen, bevor das Zittern einsetzt. Hanni (Name geändert) ist opiatabhängig, seit sie zwölf ist. Heute ist sie 25, und in dem üppigen Körper mit den zerritzten Armen und den bunt angemalten Augen steckt noch ein Stück dieser verlorenen Kindheit.

"Viele wollten mir helfen, aber ich wollte nicht": Menschen, die in die Nothilfe an der Landwehrstraße kommen, wissen nicht mehr weiter. Hier können sie Kontakte knüpfen, es gibt günstiges Essen, manche kommen aber auch nur, um saubere Spritzen zu bekommen. (Foto: Robert Haas)

Hanni sagt Sachen wie: "Ich mag das Leben nicht, mit Drogen geht es nicht, und ohne auch nicht." Oder: "Viele wollten mir helfen, aber ich wollte nicht." Ein halbes Glas Fruchtsaft lang bleibt sie in dem schweren Sofa sitzen im Kontaktladen des Drogennotdienstes L43 von Prop e.V., Verein für Prävention, Jugendhilfe und Suchttherapie. Sie ist neu in der Landwehrstraße 43 am Münchner Hauptbahnhof, doch sie weiß: Wer dort aufläuft, ist ganz unten angekommen in der Gesellschaft.

Im L43 stranden Konsumenten illegaler harter Drogen wie Schiffbrüchige auf einer Insel. Eine Reisetasche, ein Schlafsack und vielleicht eine Plastiktüte voll ungeöffneter Briefe - mehr ist den Abhängigen nicht geblieben von ihrem Leben vor der Sucht, von Familie, Freunden, Job. Die Kombination aus Kontaktladen, Notschlafstelle und 24-Stunden-Beratung im L43 ist ihr Anker zu einer Gesellschaft, der sie längst entglitten sind. "Ein Rückzugsraum", nennt es Regina Radke, Leiterin des Drogennotdienstes. Dort können sie für einige Stunden zur Ruhe kommen, Wäsche waschen, duschen, am Freizeitprogramm teilnehmen, um Rat fragen und Hilfsangebote annehmen. Sie können aber auch nur Spritzen tauschen oder kaufen, zusammen mit Ascorbinsäure, Nadel, Tupfer und sterilem Wasser für 25 Cent. Kondome und Gleitgel gibt es kostenlos, da Prostitution eine häufige Erwerbsquelle ist.

Das Angebot im Drogennotdienst ist niedrigschwellig, Voraussetzungen gibt es keine. Die Klienten, wie sie hier genannt werden, müssen nicht das Ziel haben, clean zu werden. "Das Konzept ist, diese Menschen ohne Anforderungen überhaupt wieder in Kontakt mit Drogenhilfe zu bringen", sagt Regina Radke. Finanziert wird das L43 von der Stadt München, dem Bezirk Oberbayern und der Regierung von Oberbayern. Die 16 Sozialpädagogen leisten in erster Linie Überlebenshilfe - die Notschlafstelle soll verhindern, dass Abhängige wie vor zwanzig Jahren in Tiefgaragen und Abbruchhäusern leben müssen und dort irgendwann möglicherweise an Hepatitis, Blutvergiftung oder Überdosis sterben. Sie sollen ein Stück weit aus ihrer Verelendung herausgeholt werden.

Seit Radke, eine blonde Frau mit klimpernden Armreifen, kurz nach der Gründung des L43 vor 18 Jahren in der Einrichtung angefangen hat, hat sie einige Veränderungen in der Szene bemerkt: "Den klassischen Junkie, der nur Heroin intravenös konsumiert, gibt es kaum mehr", sagt sie. Typischer sind Mischkonsum und mehrere Abhängigkeiten gleichzeitig, wie Alkoholsucht. Neu und lebensgefährlich ist der Trend, Fentanyl-Pflaster aus der Krebstherapie auszukochen und die Lösung zu injizieren. "Ruinöser Konsum, um um jeden Preis zu vergessen", nennt es Radke. Die Szene sei härter geworden, Vereinzelung und Entsolidarisierung nehme zu. Zunehmend mehr Migranten seien betroffen.

Es ist Spätnachmittag und ziemlich lebhaft im Kontaktladen des L43. Bis zu hundert Abhängige kommen täglich. Später soll es Schnitzel mit Kartoffelsalat geben, für einen Euro, darauf warten die Männer und Frauen. Für viele wird es die einzige warme Mahlzeit der Woche bleiben. Ein Mann ist in seine Zeitung vertieft, ein anderer trinkt an der Theke Milchkaffee und fragt nach einem Hepatitistest, zwei Jungs kommen zum Spritzentausch und kaufen noch zwei Löffel.

Der Kontaktladen soll die raue Welt des "24-Stunden-Jobs Junkie" ausklammern. Daher ist Drücken und Dealen verboten, Hunde dagegen erlaubt. "Wenn der Hund raus muss, ist das fatal, denn dann bleiben die Klienten auch weg", sagt Çigdem Aydogan. Die Sozialpädagogin hat ein Hundefütterungsprojekt ins Leben gerufen: "dogs'n'need". "Der Hund ist oft der einzige Freund", sagt sie. Ein Tierhändler spendet das Futter, jetzt sucht Aydogan einen Tierarzt, der kostengünstig behandelt.

Die lockere Atmosphäre gehört zum Konzept. 4000 sogenannte Thekengespräche sind daraus 2010 entstanden, mehr als ein Viertel davon zur Entgiftung, ebenso viele zu Ämterangelegenheiten. Das ist viel bei einer derart entwurzelten Klientel. "Sie müssen sich eine Situation vorstellen, in der es keine Basis mehr gibt", sagt Radke. "Dokumente, Sozialkontakte, Gesundheit - alles weg." Erst nach und nach fassen die Süchtigen Vertrauen, ohne Namen und Erwartungen fällt das leichter. Dann können spezifischere Hilfsangebote anknüpfen, die es hier gibt. Radke und ihre Mitarbeiter begleiten auch zu Ärzten und Ämtern, fordern Kopien von Urkunden an, helfen beim Ausstellen eines Ausweises. Geben dem Leben ein wenig Rahmen zurück.

Doch ein Glied in der Hilfskette fehlt nach Meinung vieler, die mit Drogenabhängigen arbeiten: ein Druckraum. "In Bayern ist das politisch nicht gewollt", sagt Radke. Als ein Grund wird sogenannter Druckraum-Tourismus angeführt. So bleibt den Helfern nichts übrig, als die Süchtigen zum Drücken auf die Straße zu schicken. In Frankfurt und Berlin gibt es solche beaufsichtigten Räume. Schweizer Studien belegen einen damit verbundenen Rückgang der Todesfälle.

Nach dem Abendessen wird es ruhiger im L43. Von acht Uhr an beziehen die Süchtigen ihre Zimmer, die sie für zwei Wochen bewohnen dürfen. Nach dieser Zeit fragen die Pädagogen vorsichtig nach, ob sie nicht etwas ändern wollen an ihrem Leben. 7066 Mal wurde 2010 in den 32 Betten übernachtet. Einige der sogenannten Schläfer - die Jüngste kaum älter als 16, der älteste über 60 - wirken fahrig. Sie haben gespritzt, um durch die Nacht zu kommen, ohne "affig" zu werden - wenn nach sechs bis acht Stunden Entzugserscheinungen einsetzen und der Körper nach Nachschub schreit.

Jörg schläft seit einigen Jahren nicht mehr im L43. Er hat den Absprung geschafft. Ab und zu wird er rückfällig für einen Tag, sagt er, weil er das unglaubliche Gefühl des Morphins in den Venen nicht vergessen kann. Von seinem erfolgreichen Job im Außendienst, der ihn in der Business-Class um die Welt brachte, sind nur Erinnerungen geblieben. Der Mittfünfziger lebt von Hartz IV, muss Sozialstunden abarbeiten. Er ist gerade auf der Suche nach einem Job. Als "Altklient" ist er gern gesehener Gast im L43.

Dort sind jetzt nur noch Schläfer und der Nachtdienst. Bis zum Morgen kontrollieren Mitarbeiter stündlich die Zimmer, lauschen, ob alle noch atmen. Und verständigen im Notfall den Rettungsdienst. Die Frauen sitzen vor dem Fernseher, im Männergeschoss laufen Duschen und Waschmaschinen. In den Zimmern und Toiletten ist Konsum strengstens verboten. In der Schleuse müssen Schläfer ihre leeren Taschen zeigen. Dennoch musste im vergangenen Jahr 26 Mal der Notdienst anrücken, konnte aber alle Notfälle retten. Doch die Betroffenen wissen: Wäre ihnen das an irgendeinem anderen Ort passiert, wären sie wahrscheinlich nicht mehr am Leben.

© SZ vom 21.09.2011/mil - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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