Zwölf neue Biografien:Namen statt Nummern

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Seit 1999 werden in einem Projekt die Lebens- und Verfolgungsgeschichten ehemaliger KZ-Häftlinge recherchiert. Die Erinnerung an ihre Schicksale stärken den Widerspruch gegen den wachsenden rechten Populismus

Von Renate Zauscher, Dachau

Millionen von Menschen wurden von den Nationalsozialisten in die Konzentrations- und Vernichtungslager verschleppt. Ob sie starben oder überlebten, allen war gemeinsam, dass die Nazis in ihnen nicht mehr das Individuum, den einzelnen Menschen, sahen, sondern sie zu Nummern degradierten - und bei den europäischen Juden, sechs Millionen wurden ermordet, sogar die Erinnerung an die Opfer auslöschen wollten. Mit dem Projekt eines "Gedächtnisbuchs" werden seit 1999 individuelle Lebensgeschichten von Dachau-Häftlingen rekonstruiert und so vor dem Vergessen bewahrt. Das Projekt hat aber auch eine pädagogische Dimension: Es sind sehr oft junge Leute, die die Lebensgeschichten der Häftlinge recherchieren und dabei einen ganz persönlichen Bezug zu den Opfern der NS-Verfolgung entwickeln können.

Ungefähr 150 Besucher kamen ins Karmel-Kloster zur Präsentation der zwölf neuen Biografien von KZ-Häftlingen. (Foto: Toni Heigl)

Jeweils am 22. März, dem Tag der Errichtung des Lagers in Dachau 1933, werden neu erstellte Biografien des fortlaufenden Projekts der Öffentlichkeit vorgestellt. Mehr als 200 000 Menschen aus ganz Europa waren in dem Konzentrationslager Dachau, das als Modell für alle weiteren Lager diente, und seinen Außenlagern gefangen. Mehr als 41 500 Häftlinge starben an Hunger und Krankheiten oder wurden ermordet.

In diesem Jahr waren zur Gedächtnisbuch-Präsentation gut 150 Menschen in das Kloster Karmel an der KZ-Gedenkstätte gekommen, unter ihnen zahlreiche Familienmitglieder von ehemaligen Häftlingen. Zwölf Lebensgeschichten waren es diesmal, die der Trägerkreis Gedächtnisbuch, die Projektleiterin Sabine Gerhardus vom Dachauer Forum und die Verfasser der Biografien vorstellten. Fast die Hälfte der Gedächtnisblätter war von Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums Grafing erstellt worden, von dem auch die Instrumentalisten Zoltan Botos, Robin Brunnthaler und Jakob Skudlik (Ukulele, Cello und Klavier) sowie die Sängerin Rosa Taccarelli kamen.

Diakon Klaus Schultz lenkte den Blick auf die Gegenwart. (Foto: Toni Heigl)

Den Lebensweg von einem der Dachau-Häftlinge, Josef Nieberle, hat eine Gruppe von Schülerinnen der Realschule Weichs nachgezeichnet. Aber auch geschichtsinteressierte Lehrer und ehemalige Bekannte oder Freunde der Opfer und ihrer Familien wie etwa Karl Strauß aus Petershausen, Bernhard Weber aus Petershausen oder Peter Mreijen aus den Niederlanden haben sich intensiv mit dem Leben einzelner Häftlinge beschäftigt.

Die Auswahl der Biografien zeigt, wie unterschiedlich die Menschen waren, die, manchmal nur für einige Monate, manchmal aber auch über Jahre, oft bis zum Tod, in deutschen Konzentrationslagern inhaftiert waren. So haben Erhard Bosch und Karl Wingler den Lebensweg des herausragenden Wissenschaftlers Imre Brody rekonstruiert, eines aus Ungarn stammenden jüdischen Physikers, der im Dachauer Außenlager Mühldorf Zwangsarbeit für die deutsche Rüstungsindustrie leisten mussten und 1944 starb. Ganz anders sahen Leben und Herkunft des Häuslers und Fuhrknechts Johann Bieringer aus Weichs aus, der nur unregelmäßig Arbeit hatte, der NS-Obrigkeit deshalb schnell als "arbeitscheu" galt und als Mitglied von Gewerkschaft und KPD in KZ-Haft kam. Dagegen war Josef Nieberle als Landwirt und

Leslie Schwartz, ein Holocaust-Überlebender aus Ungarn, lebt heute in den USA. Er konnte nicht kommen, richtete aber eine Video-Botschaft an die Gäste. (Foto: Toni Heigl)

Bürgermeister in seinem Heimatort Weigersdorf bei Eichstätt ein angesehener Bürger: Er widersetzte sich jedoch aus religiöser Überzeugung der NS-Ideologie. Josef Nieberle kam bei einem Überfall durch NSDAP-Mitglieder auf ihn knapp mit dem Leben davon und wurde anschließend nach Dachau verschleppt. 14 Monate wurde er in dem KZ terrorisiert.

Einer der Überlebenden des Holocaust ist Leslie Schwartz in den USA, der aus Ungarn stammt. Schwartz, ein Cousin des Hollywood-Stars Tony Curtis, hatte in mehreren Dachauer Außenlagern Zwangsarbeit leisten müssen; seine gesamte Familie wurde ermordet. Dass er gegenüber seiner Biografin Johanna Grebner dennoch vom "Glück" sprach, das er in seinem Leben immer wieder gehabt habe, hat diese sehr beeindruckt. Aber auch den Mut etwa eines Adi Maislinger, der bis 1945 inhaftiert war und sich später mit aller Kraft für die Einrichtung der Gedenkstätte eingesetzte, bewundern die Verfasser ihrer Gedenkblätter, Fabian Hoppmann und Sebastian Trohorsch vom Grafinger Gymnasium - ebenso wie die Selbstlosigkeit des selig gesprochenen Priesters Engelmar Unzeitig, der in Dachau freiwillig Typhuskranke betreute und dabei starb.

Schüler des Gymnasiums Grafing spielten an dem Abend. (Foto: Toni Heigl)

Lisa Obermaier stellte in dem von ihr verfassten Gedenkblatt George Scott aus Ungarn vor, der als 14-Jähriger Auschwitz und eines der Dachauer Außenlager bei Kaufering überlebte. Er wurde im KZ Dachau am 29. April 1945 von amerikanischen Soldaten befreit und lebt heute in Kanada. Julius Neuberger dagegen, ein Rabbiner aus Franken, vorgestellt von Beata Tomczyk und Maja Lynn, wurde 1945 in Kaufering ermordet. Henk Zanoli aus den Niederlanden starb in Mauthausen. Franz Klement, Sozialdemokrat und Bürgermeister aus dem böhmischen Dallwitz, kam 1938/39 für mehrere Monate in KZ-Haft, wie Helena Strebl berichtet.

Ganz aus der Nähe, aus Hohenkammer, stammten Thomas Held und Thomas Groß, die zusammen mit ihrem Freund Korbinian Geisenhofer verhaftet wurden, weil sie als angebliche Kommunisten denunziert worden waren. Biograf Karl Strauß hat die Männer, die die Haft von 1934/35 überlebten, teilweise noch selbst gekannt.

Das Gedächtnisbuch will den "Nummern" ihre Namen und ihre Geschichte zurückgeben. Darüber hinaus hat es aber noch eine wichtige Funktion. Es beinhalte "die Verpflichtung, in die Gegenwart zu schauen", sagte Diakon Klaus Schulz von der Evangelischen Versöhnungskirche. Es stelle "Antwort und Widerspruch" dar - auf und gegen den rechten Populismus in Deutschland und Europa; "Widerspruch dagegen, wenn Menschen diffamiert und unsere Erinnerungskultur verunglimpft werden."

© SZ vom 05.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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