Zeitgeschichte:"Sie glaubten unseren Erzählungen nicht"

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Shraga Milstein, geboren in Piotrkow in Polen, lebt seit 1948 in Israel. Er arbeitete als Lehrer und Schuldirektor. (Foto: Joergensen)

Zeitzeuge Shraga Milstein berichtet im Rathausfoyer von seinen Erlebnissen als Kind im Holocaust

Die Zeitzeugen, die vom Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust berichten können, werden weniger und sie werden jünger. Denn immer häufiger kommen nun Menschen zu Wort, die als Kinder Verfolgung, Deportation und Zwangsarbeit erleben mussten. In diesem Jahr lud die Stadt den Israeli Shraga Milstein ein, um zum Gedenken an die Pogromnacht 1938 im Rathausfoyer zu sprechen. Der Novemberpogrom, bei dem Hunderte ermordet, Wohnungen, Geschäfte, Schulen, Synagogen verwüstet und zerstört wurden, gilt in seiner Brutalität als Beginn des Holocausts und der systematischen Ermordung der Juden Europas. 30 000 Menschen wurden willkürlich verhaftet, etwa 11 000 ins KZ Dachau gebracht. Shraga Milstein war im November 1938 fünf Jahre alt, er lebte mit seiner Familie in Polen. Der Vater war Fabrikdirektor, daheim gab es Personal, Hausmusik, Bildung. Die öffentliche Schulbildung allerdings wurde dem kleinen Jungen schon ein Jahr später verwehrt. Das Haus der Familie lag nun innerhalb des Ghettos, das die nationalsozialistischen deutschen Besatzer errichtet hatten.

Was das Kind in den folgenden Jahren erlebt, ist so schrecklich, dass man ihm nach dem Krieg kaum Glauben schenkt. "Die meisten Menschen hielten unsere Erzählungen für Fantasiegeschichten von Kindern", sagte Milstein in seiner Rede. Er war zwölf, als er von britischen Soldaten im April 1945 aus dem Lager Bergen-Belsen befreit wurde. Die Eltern waren tot. Shraga sorgte für seinen neun Jahre alten Bruder. Sie hatten das Ghetto, Selektionen, Transporte, Zwangsarbeit, die KZs Buchenwald und Bergen-Belsen, kilometerlange Fußmärsche durch Eis und Schnee, Hunger, Erschöpfung und Verzweiflung überlebt. Das schwedische Rote Kreuz und später jüdische Hilfsorganisationen helfen den Kindern, sich ein Leben aufzubauen.

Milstein geht auf die weltweiten Flüchtlingsbewegungen nicht ein. Doch was er erzählt, macht beklemmend deutlich, wie wichtig es auch heute ist, Menschen auf der Flucht, die Schockierendes erlebt haben, zu helfen. Denn Milstein fährt fort: "Trotz der traumatischen Erlebnisse meiner Kindheit hatte ich ein befriedigendes Leben mit meinen Studien, der Arbeit, meiner Familie, Reisen und beruflichen Errungenschaften. Heute bin ich stolzer Vater von drei Söhnen und neun Enkeln."

© SZ vom 09.11.2015 / vgr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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