Zeitgeschichte:Ein Verbrechen im Blickfeld

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Das 18. Dachauer Symposium behandelt den Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion von 1941 bis 1945. Russische und deutsche Experten diskutieren über die Folgen des Krieges für die heutigen Beziehungen ihrer Länder

Von Walter Gierlich, Dachau

Zu dem Ruf Dachaus als Lern- und Erinnerungsort tragen neben der KZ-Gedenkstätte viele zeitgeschichtliche Veranstaltungen und Vereine bei, auch die Vergabe eines Preises für Zivilcourage durch die Stadt und vor allem das Dachauer Symposium zur Zeitgeschichte. So hatte es der Gründer Bernhard Schoßig im Jahr 2000, damals Leiter des Jugendgästehauses, auch intendiert. In nunmehr 18 Jahren hat es sich als Forum des wissenschaftlichen Austauschs über die Geschichte des Nationalsozialismus etabliert - in der internationalen Zeitgeschichtsforschung ebenso wie in der Öffentlichkeit. Die Stadt veranstaltet mit dem Max-Mannheimer-Studienzentrum/Internationalen Jugendgästehaus jährlich das Symposium. Das diesjährige Thema: der Vernichtungskrieg von Wehrmacht und SS gegen die Sowjetunion von 1941 bis 1945.

Die gewaltigste und opferreichste Auseinandersetzung des Zweiten Weltkriegs wurde jahrzehntelang in der deutschen Geschichtsforschung kaum thematisiert. "Der deutsch-sowjetische Krieg 1941-1945" lautet der Titel der zweitägigen Veranstaltung, die sich mit "Geschichte und Erinnerung im Licht neuer Forschungen" - so der Untertitel - beschäftigt. "Hitlers Vernichtungskrieg hatte nicht nur die Zerstörung der politischen und militärischen Strukturen der Sowjetunion zum Ziel, sondern vor allem die Eroberung von Lebensraum', und das hieß: die Vernichtung, Versklavung oder Vertreibung der sowjetischen Bevölkerung", ist in der Einladung zu lesen.

Die Projektleiterin der wissenschaftlichen Tagungen ist seit 2012 die aus dem Landkreis Dachau stammende Historikerin der Frankfurter Goethe-Universität und Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts, Sybille Steinbacher. Die wissenschaftliche Leitung des Symposiums hat diesmal der in Dachau lebende Historiker Jürgen Zarusky vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ). 2017 fragte das Dachauer Symposium danach, wie Zuwanderer und Flüchtlinge über den Nationalsozialismus aufgeklärt werden können. Auch beim aktuellen Thema schlägt das Symposium thematisch eine Brücke aus der Zeit des Nationalismus in die Gegenwart.

Im kollektiven Gedächtnis Russlands steht dieser Krieg, der unermessliches Leid über die Menschen der Sowjetunion gebracht hat, an zentraler Stelle. Etwa 27 Millionen Sowjetbürger, darunter weit mehr als die Hälfte Zivilisten, fielen dem verbrecherischen Feldzug gegen die UdSSR zum Opfer, der auch den Beginn des Holocausts bildete. 1700 Städte und circa 70 000 Dörfer wurden von den deutschen Truppen und mit ihnen verbündeten Truppe aus Rumänien, Finnland, Ungarn und der Slowakei auf ihrem Vormarsch nach Osten zerstört.

Erst nach den Umbrüchen von 1989 bis 1991 mit der deutschen Wiedervereinigung und dem Zerfall der Sowjetunion ist dieser mörderische Waffengang stärker ins Blickfeld der Historiker auf beiden Seiten gerückt, wurde der Mythos von der sauberen Wehrmacht ebenso entzaubert wie der sowjetische Heroismus ("Großer Vaterländischer Krieg"), in dem die Erinnerung an die Judenvernichtung und die Massaker an Zivilisten nur eine geringe Rolle spielten. "Seit den heftigen Debatten um die sogenannte Wehrmachtsausstellung in der zweiten Hälfte der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre, die auch zum Auslöser wichtiger Forschungen wurde, ist es um das Thema hierzulande indes ruhiger geworden", so der Einladungstext für das Symposium. Dabei seien die Kenntnisse und das wechselseitige Verständnis für das damalige Geschehen in den Augen der Veranstalter "keineswegs befriedigend" und Bemühungen um Verständigung hätten es angesichts neuer Ost-West-Spannungen "nicht leicht". Das diesjährige Symposium bringt daher Experten aus Deutschland und Russland zusammen, um das schwierige Thema des deutsch-sowjetischen Krieges aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten. "Das KZ Dachau als historischer und Erinnerungsort hat dabei einen eigenen Stellenwert", wird in der Ankündigung betont.

Jürgen Zarusky, Chefredakteur der "Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte" und Redakteur der "Mitteilungen der deutsch-russischen Historikerkommission", wird ins Thema einführen, ehe es aus verschiedenen Perspektiven genauer betrachtet wird. So wird Sergej Slutsch aus Moskau einen Überblick über die deutsch-sowjetischen Beziehungen von Hitlers Machtergreifung bis zum Überfall am 22. Juni 1941 geben, bevor Dieter Pohl von der Universität Klagenfurt den mörderischen Waffengang in den Kontext des Zweiten Weltkriegs stellt.

Jürgen Zarusky hat diesmal die wisssenschaftliche Leitung. (Foto: Niels P. Joergensen)

"Ganz normale Soldaten?", fragt der Münchner Historiker Johannes Hürter, der die Gewaltaktionen der Wehrmacht untersucht, und Andreas Hilger (Hamburg/Moskau) stellt die Ergebnisse eines deutsch-russischen Forschungsprojekts über das Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener vor. Danach geht es um die Rolle der Wehrmacht und die Schicksale sowjetischer Kriegsgefangener. Ganz nah an Dachau herankommt Gabriele Hammermann, Leiterin der KZ-Gedenkstätte, in ihrem Vortrag über die Ermordung von mehr als 4000 sowjetischen Kriegsgefangenen auf dem ehemaligen "SS-Schießplatz Hebertshausen". Jahrzehntelang wurde dieser Ort im Kalten Krieg vernachlässigt und wäre ohne das zivilgesellschaftliche Engagement vergessen worden. Erst im Mai 2014 wurde dort eine Gedenkstätte errichtet.

Den letzten Themenblock des ersten Tages bilden die sowjetischen Besatzungserfahrungen. So wird Yulia von Saal vom IfZ über Kriegskindheiten in der besetzten UdSSR und Natalia Timofeeva über Krieg und Besatzung im Gebiet Woronesch berichten. Bert Hoppes Referat unter dem Titel "Von Nachbarn zu Ausgeschlossenen" handelt vom Verhältnis zwischen Nicht-Juden und Juden in den besetzten Gebieten. Das "Blockadebuch" von Ales Adamowitsch und Daniil Granin, eine Chronik der zweieinhalb Jahre dauernden Belagerung Leningrads, die mehr als eine Million Menschenleben kostete, wird schließlich Andrea Zemskov-Züge vorgestellt.

Der zweite Tag möchte eine Brücke zur Gegenwart schlagen, wenn es zunächst um "Brüche und Umbrüche der Erinnerung" geht. Die frühere Gedenkstättenleiterin Barbara Distel erzählt von Begegnungen mit sowjetischen KZ-Häftlingen, "einer lang vergessenen Opfergruppe". Peter Jahn, der langjährige Leiter des deutsch-russischen Museums Berlin-Karlshorst, spricht über die "Entdeckung" des Vernichtungskriegs in Deutschland. Grzegorz Rossolinksi-Liebe beleuchtet die Formen der Erinnerung an Holocaust und Zweiten Weltkrieg in der Ukraine von 1945 bis heute, und Christina Winkler beschreibt die zerrissene Erinnerung an Krieg und Holocaust im heutigen Russland. Die Tagung endet mit einer Gesprächsrunde: Steinbacher, Zarusky und die Moskauer Kulturwissenschaftlerin Irina Scherbakowa diskutieren über die Erinnerung an den deutsch-sowjetischen Krieg und die aktuellen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland.

Die Tagung findet am 12. und 13. Oktober im Max-Mannheimer-Haus statt, Anmeldungen sind bis 1. Oktober möglich. Weitere Informationen unter www.dachauer-symposium.de

© SZ vom 18.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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