Traumaüberwindung:Halt geben in schweren Stunden

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Wenn Menschen nach einem Unfall erfahren, dass ein Angehöriger von ihnen getötet wurde, fallen sie in ein tiefes Loch. Die Notfallseelsorger geben den Traumatisierten Beistand. In Dachau sind die Krisenhelfer seit 20 Jahren aktiv

Von Andreas Förster, Dachau

Die Historie der Notfallseelsorge (NFS) Dachau beginnt mit einem Anruf. Den erhielt Albert Wenning vor mehr als 20 Jahren. Der Anrufer, ein junger Feuerwehrmann, teilte ihm mit, dass der Vater eines tödlich Verunglückten seelischen Beistand benötigte. Wenning, damals Diakon in der Pfarrgemeinde Dachau-Süd und Krankenhaus-Seelsorger am Amper-Klinikum, fuhr sofort zur Unfallstelle. Einige Wochen später erhielt er einen zweiten, ähnlichen Anruf. Dieses Mal fragte ein Polizist, ob er ihn bei der Überbringung einer Todesnachricht begleiten könne. Wenning eilte hin, wo er gebraucht wurde, wie es seinem Verständnis als Mann der Kirche entsprach. Seinerzeit gab es im Raum Dachau noch keine organisierte Notfallseelsorge. Es war nur seiner persönlichen Bekanntheit zuzuschreiben, dass manche bei der Feuerwehr, im Rettungsdienst und der Polizei von ihm wussten. Wenning, mittlerweile im Ruhestand, war jahrzehntelang aktiv in der Feuerwehr in der Kreisstadt und seit 1995 ihr Seelsorger.

In dieser Nacht wurde ihm klar, dass es so struktur- und planlos nicht weitergehen durfte. Sein Engagement, für Menschen in Ausnahmesituationen da zu sein, brauchte einen festen Rahmen. "Das war sozusagen die Geburtsstunde der Notfallseelsorge im Landkreis", erinnert sich der 67-Jährige. In dem inzwischen verstorbenen Pfarrer Reinhold Langenberger und dem Gründer des bundesweit ersten Kriseninterventionsteams in München, Andreas Müller-Cyran, fand er bereitwillige Unterstützer, mit denen er ein Konzept erarbeitete. Das stellte er potenziellen Mitstreitern aus der katholischen und evangelischen Kirche vor, bis er genug Leute für einen 24-stündigen Bereitschaftsdienst zusammen hatte. "Wir haben von Anfang an ökumenisch gedacht", betont Wenning. Als das Team komplett war, stellte er sein Konzept bei der Polizei und allen Rettungsdiensten vor. Darin waren die Rahmenbedingungen für die Einsätze wie die Verständigung über Handy, der Bereitschaftswechsel mit Übergabe, das Protokoll nach dem Einsatz oder die Aus- und Fortbildung der Ehrenamtlichen festgelegt.

Wenn Menschen bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommen, brauchen deren Angehörige seelischen Beistand. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Tatsächlicher Start der NFS Dachau war im November 1998. Im ersten Jahr wurde das Team zu 42 Einsätzen gerufen. Mittlerweile sind es mehr als 70 pro Jahr. Dazu kommt noch einmal dieselbe Anzahl an Wochenend-Einsätzen, die seit 2012 überwiegend und seit 2018 komplett von den Kriseninterventionsteams (KIT) der Maltester (MHD) und des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK) übernommen werden. Was die nackten Zahlen nicht ausdrücken können, ist die tatsächliche Bedeutung für die Betroffenen, die sich ausnahmslos in einer traumatischen Ausnahmesituation befinden. Sei es, weil ein naher Angehöriger plötzlich verstirbt, sei es, dass man selbst dem Tod ins Auge blickte oder dass man Augenzeuge oder Ersthelfer bei einem schweren Unfall war. Ein weiterer Schwerpunkt der Einsätze ist das Überbringen einer Todesnachricht mit der Polizei.

"Wir wurden auch schon nach einem Banküberfall zur Betreuung der Angestellten geholt", erzählt Wenning. Auch nach dem Amoklauf im OEZ vor gut zwei Jahren bekamen sie einen Anruf. Die Notfallseelsorger, aktuell sind es vier Männer und zwei Frauen, fahren in der Regel alleine zum Einsatz. Wenn es in der Erstmitteilung der integrierten Leitstelle aber heißt "Person unter Zug", dann fahren sie zu zweit zum Unfallort: "Dann betreuen wir den Zugführer, die Passagiere und die Angehörigen."

Das ist die Stunde von Albert Wenning und Elisabeth Schulz von der Notfallseelsorge: Sie fahren zum Unglücksort und versuchen, den Angehörigen Halt zu geben und Trost zu spenden. (Foto: Toni Heigl)

Auch für die Seelsorger selbst ist die Belastung sehr groß. "Man muss seelisch und emotional auf jeden Fall stabil sein", versichert Elisabeth Schulz, Pfarrerin in Petershausen. Seit 2010 engagiert sie sich in der "Psycho-Sozialen Notfall-Versorgung für Betroffene" (PSNV-B), wie der gemeinsame Dienst der Kirchen, der Malteser und des BRK nunmehr offiziell heißt. Darüber hinaus helfen die Übergabegespräche und die Protokolle, um das Erlebte zu verarbeiten und loszulassen, aber noch wichtiger sei der persönliche Glaube. Wenning bestätigt: "Der Glaube, dass der Herrgott bereits mit dabei ist, wenn wir zum Einsatz fahren, ist das Fundament." Dabei sei es völlig unwichtig, welche Weltanschauung die Betroffenen haben, in der Not seien die Menschen eh alle gleich, sind sich Wenning und Schulz einig. Dennoch biete man auch ein Gebet oder einen Segen an, "wenn's angebracht ist", betont Wenning. Und Schulz ergänzt: "Das ist eine Sache des Fingerspitzengefühls." Nicht immer werde das Angebot angenommen. Andere wiederum fragen gezielt danach, sagt sie. Das, was man immer gebe, sind Worte des Mitgefühls. Ein offenes Ohr, eine Schulter zum Anlehnen, das Aushalten, wenn die Tränen fließen und die Worte verstummen. Es gehe um Halt, Stabilität, Orientierung. "Gut, dass sie da waren", das hören beide ganz oft nach ihrem Einsatz. Wer aktiv in der Notfallseelsorge mitmacht, hat außer der beruflichen Ausbildung innerhalb der Kirche einen Grund- und Aufbaukurs absolviert, in dem theologische, humanwissenschaftliche und organisatorische Kenntnisse für die Seelsorge in Ausnahmesituationen vermittelt werden.

© SZ vom 07.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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