Tagungsband zu Dachauer Symposium:Identität braucht Erinnerung

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Zuwanderer bringen ihre eigene Kultur und Geschichte mit. Doch auch sie sollten sich mit den Verbrechen des Nationalsozialismus auseinandersetzen. Nur wie? Volkhard Knigge und Sybille Steinbacher suchen nach Antworten

Von Walter Gierlich, Dachau

- "Deutschland ist kein Einwanderungsland". Das war jahrzehntelang ein unumstößlicher Leitsatz bundesrepublikanischer Politik, obwohl schon seit den späten Fünfzigerjahren Millionen Menschen nach Deutschland kamen, um hier zu arbeiten und zu leben. Sie brachten Kultur und Geschichte ihrer Herkunftsländer mit und trafen in ihrer neuen Heimat auf eine ganz andere Historie, die im 20. Jahrhundert von zwei Weltkriegen sowie dem Nationalsozialismus und dem einzigartigen Menschheitsverbrechen des Holocaust geprägt war. 2017 beschäftigte sich das Dachauer Symposium für Zeitgeschichte mit der Frage, wie es gelingen könnte, die Erfahrung des Nationalsozialismus mit der Lebenswelt der Migranten zusammenzubringen. Jetzt ist der von Volkhard Knigge und Sybille Steinbacher herausgegebene Tagungsband erschienen (Geschichte von gestern für Deutsche von morgen? Die Erfahrung des Nationalsozialismus und historisch-politisches Lernen in der (Post-) Migrationsgesellschaft, Wallstein Verlag 2019, 224 Seiten, 20 Euro).

In ihrem Editorial stellen Steinbacher, Professorin für Geschichte und Wirkung des Holocaust an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts, und Knigge, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora sowie Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, im Zusammenhang mit der verstärkten Zuwanderung die Frage: Wie kann die Auseinandersetzung mit dem NS-Staat und seinen Verbrechen für Menschen anderer Herkunft und Erfahrung geöffnet werden und für sie Relevanz gewinnen, ohne den Nationalsozialismus von seinem deutschen Ursprung abzukoppeln? Zwei Tage lang haben im Herbst 2017 Historiker und Pädagogen in ihren Vorträgen versucht, darauf eine Antwort zu geben. Sie trugen viele interessante Ansätze vor, ein Patentrezept fanden sie jedoch nicht, so dass die Frage auch im jetzt erschienenen Buch offen bleibt.

Knigge, der wissenschaftliche Leiter des Symposiums, mahnt, dass es nicht reiche, den Migranten deutsche Geschichte nahezubringen. Vielmehr weist er darauf hin, dass es "gleichsam spiegelverkehrt" notwendig sei, das Wissen der Deutschen "über die geschichtskulturellen Herkunftswelten und Prägungen" der Zuwanderer zu erweitern. Von Pflichtbesuchen in Gedenkstätten für Teilnehmer an Integrationskursen, wie sie etwa Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden gefordert hat, hält Knigge aber wenig, ebenso wenig wie von einem Besuchszwang für "Ethno-Deutsche". Dennoch müssten sich nach seiner Ansicht KZ-Gedenkstätten als "kleinarbeitende Bildungsstätten" verstehen, denn es fehle massiv an historischem Wissen in der Gesellschaft - und das nicht nur unter Ausländern.

Gottfried Kößler vom Fritz-Bauer-Institut betont, dass eine Migrationspädagogik die Gesellschaft nicht in Zugewanderte und Autochthone teilen dürfe. Eine Schülerin, die bis dahin als Türkin gegolten habe, habe sich dort als Armenierin offenbart. Der Besuch sei für sie die Chance gewesen, endlich einmal über den Genozid an ihrem Volk zu sprechen. Interessanterweise ist dieser auch ein wichtiges Thema im Gespräch, das Knigge und der Journalist Claus Christian Malzahn eigens für das Buch mit dem türkischstämmigen Grünen-Politiker Cem Özdemir führten. Der damalige Parteivorsitzende sollte eigentlich am Symposium in Dachau teilnehmen, war dann aber wegen der im Herbst 2017 letztlich gescheiterten Koalitionsverhandlungen mit Union und FDP in Berlin unabkömmlich. Özdemir lobt in dem Interview die deutsche Aufarbeitung der NS-Geschichte: "Das intensive Nachdenken über die eigene Geschichte ist ja auch etwas sehr Sympathisches an unserem Land. Ein Land, das zu den dunklen Flecken der eigenen Geschichte steht, ist ja nicht der Regelfall in der Welt, sondern leider eher die Ausnahme." Im Heimatland seiner Eltern werde der Völkermord an den Armeniern bis heute abgestritten und totgeschwiegen, betont er. Er ergänzt aber, dass auch der deutsche Genozid an den Herero und Nama in die Schulbücher gehöre.

Neben Kößler präsentiert auch die Pädagogin Viola B. Georgi von der Universität Hildesheim erziehungswissenschaftliche und gedenkstättenpädagogische Konzepte für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Einwanderergesellschaft. Beispiele, wie diese theoretischen Entwürfe in der Praxis umgesetzt werden können, stellen Elke Gryglewski von der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz in Berlin, wo einst die Vernichtung der Juden beschlossen worden war, Ronald Hirte von der Gedenkstätte Buchenwald sowie Oliver von Wrochem (Gedenkstätte Neuengamme) vor.

Abgerundet wird der Band von zwei Aufsätzen, in denen Omar Kamil (Universität Erfurt) über die Wurzeln des arabischen Antisemitismus und die Erziehungswissenschaftlerin Astrid Messerschmidt von der Universität Wuppertal über "rassismus- und antisemitismuskritische Geschichtsvermittlung in einer Gesellschaft vielfältiger Zugehörigkeiten und erfahrener Ungleichheiten" schreiben. Mit Blick auf die politische Entwicklung der letzten Jahre, geprägt von Abwehr, Relativierung und dem Ruf nach einem Schlussstrich bei der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus, gibt Messerschmidt den Lesern eine bedenkenswerte Mahnung mit: "Deshalb sollte gegenüber Eingewanderten nicht der Eindruck vermittelt werden, hierzulande sei hinsichtlich des Verhältnisses zu den NS-Verbrechen alles geklärt, und nur sie hätten etwas nachzuholen." Trotz der fachspezifischen Ausrichtung ist "Geschichte von gestern für Deutschen von morgen?" nicht nur für Spezialisten lesenswert, die sich mit Gedenkstättenpädagogik beschäftigen. Auch Menschen, die in Schule und Alltag mit Migranten zu tun haben, werden aus dieser Lektüre Gewinn ziehen.

© SZ vom 07.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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