Serie "Mein Lieblingswerk":Die Ambivalenz der Dinge

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Wo zum Teufel ist der Geist? Für Nina Ritz, pädagogische Leiterin des Jugendgästehauses, haben die Fotos von Katrin Petroschkat einen besonderen Reiz. (Foto: Toni Heigl)

Nina Ritz interessiert die Idee, die hinter einem Kunstwerk steckt. In der KVD-Schau "1984" gefallen ihr besonders Objekte, die aus dem Rahmen fallen und den Betrachter verwirren

Von Gregor Schiegl, Dachau

In den Museen ist alles ordentlich aufgeräumt. Man weiß, wo die Kunst steht und wo der Kaffeeautomat. In den Räumen des alten MD-Verwaltungsgebäudes, in dem die KVD ihre Ausstellung "1984" zeigt, verschwimmen diese Grenzen. Der vollgestopfte Schaukasten im Gang. Der Schreibtisch mit dem Telefon. Das Namensschild an der Tür. Thomas Mann. Der, der das viele Papier produziert hat. Der Ausstellungsort ist voller reizvoller Doppeldeutigkeiten. "Manchmal weiß man nicht: Was ist hier Installation, was ist der Rest?", sagt Nina Ritz, die pädagogische Leiterin des Jugendgästehauses.

Normalerweise zeigt die KVD ihre Werke im Schloss. Nina Ritz gibt zu, dass sie dort nie eine Ausstellung besucht hat. "Aber diese Ausstellung könnte ich mir im Schloss auch nicht vorstellen." Das alte MD-Gebäude habe einen morbiden Charme, schwärmt Nina Ritz. Die Neonröhren. Die zerschlissenen Teppiche. Die Türen im typischen Industriedesign der Sechzigerjahre. "Ich finde diesen Ort sehr gut. Er ist selbst schon ein Gesamtkunstwerk."

Nina Ritz betritt einen hellen Raum, der mit einem grauen Teppich ausgelegt ist. Korbinian Jauds Installation besteht zum Teil aus dem gleichen grauen Teppich. Er zieht sich als Band quer durch den Raum über eine Art Stele, auf der eine halbtransparente Halbkugel steht. Ein Beamer projiziert Bilder in die Linse: die Erdkugel, das Auge eines Reptils, Sternenhimmel. "Mit dem Teppich versucht der Künstler, den Raum mit dem Kunstwerk zu verbinden", sagt Nina Ritz. Der Teppich ist, das muss man sagen, ziemlich scheußlich. "Der erinnert mich an eine Bürokratenstube." Umso spannender findet sie den Gegensatz zu der Skulptur. "Viele Kunstwerke in dieser Ausstellung sind ästhetisch. Aber mich interessiert eher die Idee und ob sie mich anspricht." Hier ist es der Fall.

Dann geht es hinauf in den ersten Stock. Aus dem Treppenhaus kann man in den Hinterhof sehen. Alles zugewuchert. Eine Kletterpflanze rankt sich die Fassade des gegenüberliegenden Verwaltungsgebäudes hinauf, zwängt sich durch die schiefen Lamellen der Rollläden. Ein paar Räume weiter ist eines von Nina Ritz' Lieblingswerken zu sehen: die Videoanimation von Johannes Karl. Vier Reiter liefern sich ein endloses Wettrennen vor wechselnden Kulissen der Kultur- und Kunstgeschichte. Ein anderer Favorit sind die Fotoalben von Annekathrin Norrmann. Auf Tapeziertischen sind die großen Bücher ausgelegt, beklebt mit Bildern, die die Künstlerin aus Magazinen und Zeitungen ausgeschnitten hat. Es sind Bildzitate, die aus dem Kontext gerissen wurden: Kinder in einem Bett voller Geldscheine. Zwei nordafrikanische Herren, die auf Zebras reiten. Der Vollmond vor zartblauem Himmel. Und immer wieder getrocknete Ginkgo-Blätter. Es ist eine Bildikone, die, wie Nina Ritz sagt, von der "Ambivalenz der Dinge" erzählt. Irritiert ist sie nur über den Titel des Werks. "The Medium is the Massage." Ein Zitat des kanadischen Medientheoretikers Marshall McLuhan. "Massage"? Geht es hier wirklich um geknetete Muskeln? Eine Nachfrage bei der Künstlerin ergibt, dass das Zitat im Original schon falsch niedergeschrieben wurde. Aber was heißt schon falsch? Betrachtet man "Massage" als Hybrid aus "message" und "mass", aus Botschaft und Masse, ergibt sich ein ganz neuer Sinn.

Solche Irritationen gefallen Nina Ritz. Das Verwirrende, das Verstörende könne ja auch zum Nachdenken anregen. Das scheint ihr in der Fotoserie von Katrin Petroschkat besonders gut gelungen zu sein. Die Künstlerin wohnte in Sri Lanka einer Geisterbeschwörung bei. Dort wurde sie aufgefordert, den Geist zu fotografieren. "You can take a Picture of the Ghost" lautet daher auch der Titel der Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Sie stehen hinter einem Rahmen, der Rahmen steht hinter einem Glas. Auf dem Glas stehen Sätze wie Zurufe: Jetzt ist der Geist da drüben! Nina Ritz staunt. "Diese Arbeiten fallen im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Rahmen."

Ein Geist ist natürlich nirgendwo zu sehen, es bleibt bei der bloßen Behauptung. Was man sieht, ist Rauch. Ein leerer Innenhof. Ein Plastikstuhl auf dunklem Rasen. Der Stuhl beschäftigt Nina Ritz. "Das ist ein Stück aus einer Billigmassenproduktion, die man in ganz unterschiedlichen Kontexten vorfindet: Man sieht ihn in spießigen Laubengartensiedlungen saturierter Wohlstandsbürger genauso wie als Überbleibsel menschlicher Behausungen nach Kriegen und Umweltkatastrophen". Da ist sie wieder, die Ambivalenz der Dinge. Die Uneindeutigkeit. Die Komplexität der modernen Welt mit ihren Widersprüchen, die man im Alltag oft gar nicht so merkt.

Die moderne Massenkommunikation zum Beispiel, die sehr viele Künstler der KVD in Anlehnung an George Orwells Dystopie "1984" in der Ausstellung thematisieren, bringe einerseits die Menschen zusammen. Zugleich schaffe sie aber auch ungeahnte Möglichkeiten der Ausspähung persönlichster Lebensbereiche. "Manchmal hat man ja selbst ein schlechtes Gewissen, wenn man soziale Netzwerke nutzt und selbst dieses System mit seinen Daten füttert." Eigentlich sollte man nicht, eigentlich dürfte man nicht. Und tut es trotzdem.

© SZ vom 03.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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