Schwabhausen:Crashkurs für den Alltag

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Frauen, Männer und Kinder hören Amtsrichterin Annemarie Anderl in der Flüchtlingsunterkunft in Schwabhausen zu. (Foto: Toni Heigl)

Was bedeutet Meinungsfreiheit? Wie funktionieren Wahlen bei uns? Die Dachauer Amtsrichterin Annemarie Anderl erklärt Asylsuchenden die Grundlagen des deutschen Rechtssystems - die Flüchtlinge haben viele Fragen

Von Anna-Sophia Lang, Schwabhausen

An diesem Nachmittag ist jeder Sitzplatz im Gemeinschaftsraum der Flüchtlingsunterkunft besetzt. Frauen, Männer und Kinder drängen sich auf Sofas, Sesseln und Stühlen. Fast alle 60 Bewohner wollen hören, was die Frau zu sagen hat, die ganz hinten steht. Annemarie Anderl trägt Bluse und Blazer, sie wirkt resolut, strahlt Autorität aus und gleichzeitig ein bisschen Nervosität. Sie ist Richterin am Dachauer Amtsgericht. Das ist kein normaler Einsatz für sie. An diesem Tag ist sie nicht nur Richterin, sondern auch Freiwillige. Sie ist gekommen, um den Menschen in der Unterkunft die Grundlagen des deutschen Rechtssystems zu erklären. Die Initiative geht vom bayerischen Justizministerium aus. 800 Juristen haben sich bereit erklärt, Crashkurse in deutschem Recht zu geben. Zur Orientierung hat das Ministerium einen Leitfaden entwickelt, für die Zuhörer gibt es Broschüren mit den wichtigsten Inhalten in mehreren Sprachen und kurze Erklärfilme, die online abrufbar sind. Anderl ist die zweite Richterin, die den Crashkurs im Landkreis gibt. Den Anfang hat Christian Calame im Februar in Vierkirchen gemacht.

Zwei Dolmetscher übersetzen ins Englische und Arabische, die Zuhörer nicken, mal gibt es Gemurmel, mal kurze Zwischenfragen. Als Anderl erklärt, dass Männer und Frauen sich in Deutschland Haushaltsarbeiten teilen, dass Frauen einen Job annehmen dürfen, ohne ihren Ehemann zu fragen, kichern die Frauen im Raum. "Nein, bei uns ist das nicht so", sagt eine. Anderl streift viele Themen, deckt das Spektrum von Wahlen bis zur Kindererziehung ab. Sie spricht über Grundrechte, Zivilrecht, Strafrecht, Familienrecht. Der Vortrag ist allgemein, die Fragen konkret. Wie es sein kann, fragt einer, dass er laut Handyvertrag 40 Euro zahlen muss, der Anbieter dann aber plötzlich 80 Euro fordert? Immer auf das Kleingedruckte achten, sagt Anderl. Am besten gar nicht allein Verträge schließen, sondern nur Prepaid-Karten verwenden. Ein Mann fragt, wie er reagieren soll, wenn jemand etwas Schlechtes über seine Religion sagt. Kritik müsse man hinnehmen, antwortet Anderl, da gelte die Meinungsfreiheit. Man dürfe auch sagen, dass man den Papst doof finde oder dass man Angela Merkels Politik für blödsinnig halte. "Beleidigung ist aber die Grenze." Wenn doch Meinungsfreiheit herrsche, will ein anderer Mann wissen, warum müsse er dann seine Tochter in den Schwimmunterricht gemeinsam mit Jungs schicken? In Deutschland werde es eben als wichtig für Kinder angesehen, dass sie auch in den Sportunterricht gehen, sagt Anderl. So laute das Gesetz. Ansonsten müsse er für seine Tochter eine Mädchenschule suchen.

Ein anderer will wissen, was er tun soll, wenn jemand mit einem Messer auf ihn zukommt. Anderl versucht zu erklären, was Notwehr bedeutet. Die Richterin geht auf Fragen ein, nimmt sich Zeit, reagiert empathisch, aber auch mit Nachdruck. Die Arbeit mit Flüchtlingen ist für sie nicht neu. Sie gibt Deutschunterricht in einer Unterkunft im Landkreis. So ist sie, auch wenn sie als Richterin gekommen ist, in einer doppelten Rolle. Sie bringt Verständnis für die Situation der Menschen auf, die vor ihr sitzen, verteidigt aber auch Staat und Behörden. "Wir tun unser Bestes", sagt sie immer wieder. "Ich muss auch ein bisschen für unsere Verwaltung werben, wir haben so viel zu tun."

Es sind Sätze, die im Zusammenhang mit Flüchtlingen ständig von Landräten, Bürgermeistern und Behördenvertretern zu hören sind. Sätze, aus denen auch Hilflosigkeit spricht. Immer wieder werden Anderl Fragen gestellt, die sie als Richterin eigentlich gar nicht beantworten kann. Wie lange dauert mein Verfahren noch? Warum geht es bei anderen schneller? Ein Mann beklagt, dass die Unterkunft genau neben einem Friedhof liegt und der Weg zum S-Bahnhof so weit sei. Ein anderer regt an, dass nur Menschen aus demselben Herkunftsland in einem Zimmer untergebracht werden sollten. Anderl versucht, zu erklären. Sagt, dass sie zu den Verfahren leider auch nichts sagen kann. Dass man ihnen gerne eine schönere Wohnung bieten würde, aber es mit Wohnraum rund um München einfach nicht so leicht ist. Dass auch viele Deutsche zwei Kilometer zum S-Bahnhof fahren müssen. Da reagiert sie zum ersten Mal genervt. "Wir können nicht alles perfekt machen." Auch der Kümmerer vom Landratsamt ergreift das Wort. In vielen Unterkünften funktioniere es sehr wohl, wenn Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern sich ein Zimmer teilen, sagt er. "Die Leute müssen lernen, friedlich zusammen zu leben, trotz Herkunft, Religion und Mentalität."

Fragen wie diese sind nicht neu. Alle, die mit Flüchtlingen zu tun haben, hören sie immer wieder. Es sind die Fragen, um die sich im Alltag der Menschen alles dreht. Die sie jedem Vertreter des Staates stellen, dem sie begegnen, ob Landrat, Bürgermeister oder Richterin wie Anderl. Die Hoffnung auf eine Antwort ist groß, die Suche nach einem konkreten Ansprechpartner verzweifelt. An wen er sich wenden soll, wenn er sich benachteiligt fühlt, weil er Ausländer ist, will ein Mann wissen. Es geht um einen gezogenen Zahn, dessen Ersetzung wohl daran scheiterte, dass der Mann und die zuständige Sachbearbeiterin sich nicht richtig verständigen konnten. Es ist eines der Beispiele an diesem Tag, die zeigen, wie schwierig die Kommunikation der Asylsuchenden mit den deutschen Behörden ist. "Da müssen Sie einfach ganz schnell Deutsch lernen", sagt Anderl. Redebedarf, das zeigt die Veranstaltung, besteht jedenfalls. Viele Zuhörer kommen danach zu der Richterin. Sie schütteln ihre Hand und bedanken sich, auf Deutsch.

© SZ vom 11.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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