Mitten in Dachau:Ein perfekter Moment

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Zwei Betrunkene erleben am Dachauer Bahnhof eine filmreife Szene des Glücks. Leider währt sie nicht lange und endet schmerzhaft

Kolumne Von Thomas Radlmaier

Das, was folgt, ist eine Liebesgeschichte. Sie hat Höhen und sie hat Tiefen. Würde man sie als Filmstreifen über die Kinoleinwand laufen lassen, würden sich Pärchen am Ende in den Armen liegen, die Frauen würden weinen und die Männer so tun, als wären sie harte Hunde, denen so ein Film gar nichts ausmacht. Aber auch sie müssten schlucken. Doch man will nicht spoilern. Also von vorn.

Dachau Bahnhof. Es ist ein wunderschöner Sommertag. Zwei Männer treffen sich vorm McDonald's. Sie blicken von der Brüstung hinunter auf den Bahnhofsvorplatz, der etwa drei Meter unter ihnen liegt. Man weiß nicht genau, was anschließend passiert - die Polizei wird zwei Tage später eine Pressemitteilung verschicken mit dem Titel: "Alkohol macht übermütig." Jedenfalls hebt der eine Mann den anderen hoch. Man stellt sich das ungefähr vor wie im Film "Titanic", als das Liebespaar am Bug des Dampfers an der Reling steht. An diesem Ort, in diesem Moment haben Gefühle keine Schweigepflicht. Der Mann, der oben ist, streckt die Arme aus, schließt die Augen. Im Sommerwind wackelt der Vokuhila. Er ruft: "Ich bin der König der Welt. Ich fliege." Er habe sich verliebt, meint er. Zu jedem Topf passe eine Deckel. Wenn er hier oben sei, vergesse er die Zeit. "Vielleicht bleibe ich für immer hier." Der andere Mann (die Polizei nennt ihn den "Hochheber") entgegnet: "Für immer, nur mit dir." Es ist der perfekte Moment. Dachauer Romantik.

Doch jetzt beginnen die dramatischen Szenen in dieser Geschichte. Die Männer verlieren das Gleichgewicht und krachen gegen die Brüstung wie die Titanic gegen den Eisberg. Sie stürzen in die Tiefe. Es ist ihr Untergang. Ähnlich wie im Film könnte es sich folgendermaßen zugetragen haben: Sie liegen nun unten im Meer aus Kopfsteinpflaster, dort findet der eine Mann eine Pfeife. Er pfeift um Hilfe und pfeift und pfeift und pfeift. Und tatsächlich kommt ein Rettungswagen, der die beiden Männer ins Krankenhaus bringt. Die Rettung in Not. Was für ein Drama. Die Geschichte endet gut. Beide haben keine schweren Verletzungen davongetragen. Die Wunden verheilen nach und nach. Dafür bleibt ihnen für immer dieser eine perfekte Moment in Erinnerung. Und dieses Gefühl. Das Gefühl zu fliegen.

© SZ vom 14.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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