Mitten im Landkreis:Odyssee im Irrbus

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Es heißt, viele Wege führen nach Rom. Und es gibt viele Wege, die führen von Dachau nach Erdweg. Der Bus mit der Nummer 703 fährt einen besonders langen

Kolumne von Benjamin Emonts

Das Wort Irrfahrt verheißt nichts Gutes - denn wer will sich schon irren oder macht gerne Umwege? Der König Odysseus musste auf seiner berühmten Irrfahrt vom besiegten Troja zu seiner Heimatinsel Ithaka, wo seine Frau Penelope auf ihn wartete, so einiges durchmachen. Der einäugige Riese Polyphem verschlang hungrig sechs seiner Männer, die Zauberin Kirke verwandelte einige seiner Gefährten in Schweine, das sechsköpfige Ungeheuer Skylla gönnte sich später abermals sechs seiner Männer an einer Meerenge. Selbst ein Abstecher in den Hades, bei dem er Sisyphos qualvoll leiden sah, blieb dem kühnen Odysseus nicht erspart. So eine Irrfahrt kann ziemlich harter Tobak sein.

Denkt man im sicheren Heimathafen später an sie zurück, scheint jedoch alles halb so schlimm. Odysseus wird kaum bestreiten, dass er auf seiner zehnjährigen Irreise viel erlebt hatte, worüber er gerne erzählte. Und überlebt hat er sie letztlich auch. Mit einer Irrfahrt durch den halben Landkreis Dachau verhielt es sich nun ähnlich - erst schäumte man vor Wut über die eigene Dummheit, den falschen Weg genommen zu haben, dann zehrte man von ihr.

Ihren Ausgang nimmt die Reise am Dachauer Busbahnhof. Der Motor des Fahrzeugs brummt bereits, als man das Ziel "Erdweg S-Bahn" in Leuchtschrift liest und noch eilig hineinspringt. Was man nicht ahnt: Es handelt sich um den Bus mit der Nummer 703 - und der hat es in sich. Ohne Ozean und Wellen, wie bei Odysseus, tuckert er ziemlich kurvig über 70 Kilometer und gefühlt 147 Dörfer. Dank einer Umleitung bringt er einen ins Hügelland des Landkreises Fürstenfeldbruck und in die Ortschaften Thal und Überacker, wo einem grasende Kühe und silierende Bauern begegnen, glücklicherweise keine Menschenfresser. Priel, Palsweis, Hilpertsried und traurige Trauerweiden sind da längst passiert. In Höfa, einem Ortsteil von Odelzhausen, im Jugendjargon O-Town genannt, passiert man das Haus seiner Jugendliebe, in dem man zeitweise gewohnt hat. Vor Rossbach durchfährt man als einzig verbliebener Fahrgast die inzwischen entschärfte Kurve, in der man als Fahranfänger das Auto der Schwester in einen Graben setzte.

Wo immer es eine Abzweigung gibt, der Irrbus nimmt sie. In Sixnitgern durchfährt er die gesamte Ortschaft, bis diese in einem Wald und vor drei Feldwegen endet und der Bus umkehrt. "Das Ende der Welt?", fragt man den Busfahrer. "Ich weiß es nicht", erwidert der. Weiter geht es über Wiesen, Wälder und Felder nach Gaggers, das die Bewohner mit "sch" hinten sprechen, nach Unterweikertshofen, Guggenberg, Welshofen, Walkertshofen, Erdweg. Die Schule, an welcher der Bus hält, war die erste, die man besucht hat. Die Irrfahrt ist nach einer Stunde und 15 Minuten beendet. Man hat überlebt und ist keinem einäugigen Riesen begegnet.

Im Nachhinein muss man sagen: Eigentlich war die Reise ganz schön.

© SZ vom 30.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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