Machtübernahme der Nazis in Österreich:Erschütternde Erinnerungen

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Geistliche und Politiker gedenken in einem Gottesdienst in der Versöhnungskirche des ersten Transports österreichischer Gefangener zum Dachauer KZ. Bischof Maximilian Aichern mahnt, künftig wachsam zu sein

Von Christiane Bracht, Dachau

Es war ein Tag wie heute: strahlender Sonnenschein, angenehm warme Frühlingstemperaturen - eigentlich wunderbar. Doch für die 150 Gefangenen aus Wien, die am Morgen des 2. April 1938 am Dachauer Bahnhof ankamen, war nichts wunderbar. Zeitzeugen berichteten von schweren Misshandlungen schon auf der Fahrt ins Konzentrationslager. Viele wurden von den SS-Aufsehern gequält. "Wer nicht blitzschnell aus dem Waggon herauskam und auf den Laster sprang, wurde von Faustschlägen getroffen oder mit Kolbenstößen unsanft vorangetrieben", sagte Pfarrer Björn Mensing zu Beginn des Gedenkgottesdienstes an den ersten Transportzug österreichischer Gefangener zum KZ Dachau. Viele waren am Sonntag in die Versöhnungskirche gekommen, vor allem aus Österreich. Allen voran der evangelische Bischof Michael Bünker und von der Diözese Linz der emeritierte Bischof Maximilian Aichern, der mit seinen Kindheitserinnerungen die Zeit der österreichischen Besatzung für alle lebendig werden ließ.

Gemeinsam schreiten evangelische, katholische und jüdische Gläubige zum Abschluss des Gedenkgottesdienstes zum jüdischen Mahnmal hinab. (Foto: Toni Heigl)

"1938 war ich im letzten Kindergartenjahr. Abends um acht Uhr ging ich ins Bett, meine Eltern saßen daneben. Es gab nur einen Raum. Bevor ich einschlief, wurde im Radio berichtet, dass der damalige Bundeskanzler Kurt Schuschnigg aufgibt. Er sagte noch 'Gott schütze Österreich'", erinnert sich Aichern. "Das habe ich noch heute in den Ohren." Am nächsten Tag sei die Aufregung groß gewesen. Eine Verkäuferin kam nicht zum Dienst in die Metzgerei seiner Eltern. Als man kurze Zeit später das Deutschlandlied hörte und eine Menschenmenge mit Hakenkreuzfahnen singend am Geschäft vorbeimarschieren sah, war die Verkäuferin dabei. Wieder einen Tag später gab es erneut Aufregung: "Eine Frau, die regelmäßig ins Geschäft kam und einmal in der Woche koscheres Fleisch kaufte, kam nicht. Sie war polnische Jüdin. ,Was ist mit ihr?', fragte die Mutter des Bischofs. Auch andere Kunden blieben von nun an fern. Stattdessen kamen die Nazis und erklärten die Metzgerei zum ,arischen Geschäft' und brachten eine Tafel an", erinnert sich der Bischof. Andere Läden in der Straße wurden zerstört, mit Kalbsblut beschmiert und geschlossen. Er erinnert sich, wie "Parteigenossen mit Schleife und Hakenkreuz" einen älteren Mann mit Glatze und schäbigem Gewand boxten, ihn versuchten zu Boden zu werfen, wie er über einen Bordstein fiel und sich den Kopf anschlug, und wie die Nazis auf ihn eintraten. "Das Bild habe ich das ganze Leben lang vor meinen Augen gehabt", sagte er betroffen. "Und niemand konnte etwas dagegen machen." Die Gläubigen hörten gebannt und erschüttert zugleich den Erzählungen des Bischofs zu, unter ihnen Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, sowie Dachaus Politprominenz mit dem Bundestagsabgeordneten Michael Schrodi (SPD), dem Landtagsabgeordneten Bernhard Seidenath (CSU), Bezirkstagspräsident Josef Mederer (CSU) sowie Vizelandrätin Marianne Klaffki (SPD). Der Waschbeton der Kirche tat das Übrige, um die Freude über den schönen Frühlingsmorgen aus den Gemütern der Leute zu ziehen. Die Kälte stieg langsam auf. Besonders als Aichern über sein Gespräch mit dem Obersturmbandführer Hubert Erhart berichtete, der unter anderem das Kloster St. Lambrecht, in dem der Bischof anfangs war, während der NS-Zeit als KZ-Außenlager verwaltete. Gefragt, ob Erhart nicht ein schlechtes Gewissen habe, habe dieser gesagt: "Nein. Das war doch unsere Ideologie. Es ist genauso, wie Sie nach Ihrem Glauben handeln."

Pfarrer Björn Mensing (von links), Bischof Michael Bünker und Bischof Maximilian Aichner zelebrieren das Gedenken der Verstorbenen. (Foto: Toni Heigl)

Von dem ersten Gefangenentransport nach Dachau vor 80 Jahren gibt es nur wenige Zeitzeugenberichte. Am Polizeigefängnis wurden die Leute auf einen Laster getrieben. Durch kleine Schlitze konnten sie nach draußen sehen. Wo es hingehen sollte, wussten sie nicht. Manche hofften schon, freigelassen zu werden, doch als sie erkannten, dass sie Richtung Westbahnhof unterwegs waren, starb diese Hoffnung. Einer soll geschrien haben: "Es geht nach Dachau ins KZ." "Als wir an die SS-Wachmannschaft des KZ übergeben wurden, hörten wir auf, Menschen zu sein", schrieb ein Häftling. Egal ob Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten oder Monarchisten, die Gefangenen wurden schwer misshandelt. Unter ihnen waren viele Prominente wie Robert Danneberg, ein führender Sozialdemokrat. Er hatte sich als Gestalter des roten Wien einen Namen gemacht und war an der ersten demokratischen Verfassung Österreichs beteiligt. Desider Friedmann war Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Johann Staud hatte als katholischer Sozialpolitiker bis zum Schluss für ein unabhängiges Österreich gekämpft. Im Gottesdienst wurde auch besonders des Sinti-Musikers Otto Endress gedacht und der jüdischen Beamtin Fritzi Kohn. Was sie einte, war, dass die Nazis sie als Gegner betrachteten.

Die Glocke wurde von österreichischen Überlebenden gestiftet. (Foto: Toni Heigl)

Sorgenvoll erinnerte der evangelische Bischof Michael Bünker in seiner Predigt an den Mord an der Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll in Paris Ende März und den zunehmenden Antisemitismus. "Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht eine Synagoge angegriffen oder ein Friedhof geschändet wird", sagte er und appellierte an alle, sich auf die Seite der Menschenwürde zu stellen. Denn Gerechtigkeit könne nur dort erwachsen, wo für sie gekämpft und gelitten werde. Und gelitten haben die Häftlinge wahrlich. Bischof Maximilian Aichern mahnte: "Erinnern ist zu wenig, wir müssen tätig sein, wachsam sein."

Auch Charlotte Knobloch war dabei, denn die meisten der Inhaftierten waren Juden. (Foto: Toni Heigl)

Der katholische Pfarrer Alfons Einsiedl las aus einem Brief seines Großvaters Alois Renoldner vor, der auch im KZ Dachau war und dort die "schwersten Stunden seines Lebens" verbrachte. Sechs Monate lang sah und erlebte er dort viel Grausamkeit und schwere Misshandlungen. Von 17.30 bis 6 Uhr morgens mussten die Gefangenen in Reih und Glied stehen. "Ich hielt Zwiesprache mit mir selbst", berichtete Renoldner. Doch der "unbeschreiblich schöne Leuchteffekt beim Sonnenaufgang am Morgen war eine helle Freude". Da habe er Gottes Allmacht und Nähe gespürt. Ihm hat der Glaube durch diese schweren Stunden geholfen, andere, so erinnerten die Bischöfe, hätten den Glauben verloren.

Während der Trauerfeier läutete die Glocke. (Foto: Toni Heigl)

Bünker erinnerte, dass aus all dem Furchtbaren auch etwas Gutes entstanden sei: "Aus Blut und Tränen sind wichtige Impulse für die Ökumene entstanden" sowie "eine Umkehr der Kirchen im Verhältnis zum Judentum". Und so gestaltete auch der jüdische Kantor Nikola David mit seinen hebräischen Gesängen den Gedenkgottesdienst mit. Zum Abschluss zogen die Gläubigen zum jüdischen Mahnmal und sangen dort "Schön ist es, wenn Brüder und Schwestern friedlich beisammen wohnen" auf Hebräisch.

© SZ vom 09.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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