Literatur aus Dachau:Lügenmärchen mit Asphaltkaries

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Der Dachauer Schriftsteller Michael Erle. (Foto: privat)

Im neuen Buch des Dachauers Michel Erle geht es ums Überleben der Menschheit nach dem Klimakollaps - und Fake News

Von Gregor Schiegl, Dachau

"Freiburg hat über 200 Kilometer Tunnels, Schächte und Gänge. In den Außenbereichen kann schon mal das Licht ausfallen, Pilzkulturen an den Wänden wuchern oder Wasser eindringen." Von der hübschen Stadt im Breisgau ist im Buch des Dachauer Autors Michael Erle nicht mehr viel übrig, jedenfalls nicht an der Oberfläche. Das Klimasystem ist kollabiert, eine Orkanfront fegt in 17-Tages-Zyklen übers Land. Die Menschen haben sich in den Untergrund verkrochen.

Die dystopische Reihe "Sturm über dem Rhein", dessen zweiter Band Michael Erle kürzlich vorgelegt hat, behandelt hochaktuelle Themen: Klimawandel, Fake News und künstliche Intelligenz. Er behandelt aber auch das, was man derzeit nach einem Jahr Corona-Pandemie gut beobachten kann: die erstaunliche Adaptionsfähigkeit des Menschen an den klaustrophobischen Ausnahmezustand.

Die 16-jährige Etienne - ja, ein Mädchen mit einem Jungennamen - ist die Heldin dieser Reihe. Sie führt ein relativ normales Teenagerdasein inklusive all der pubertären Begleiterscheinungen: Partys, Joints und Schwärmereien, Kühnheit bis zum Übermut, aber auch immer eine gewisse Verletzlichkeit, die sich unter schnoddriger Coolness tarnt. "Sturm über dem Rheintal" könnte auch als Jugendbuchreihe in die Verkaufsregale einsortieren, empfohlen ab 14 Jahren.

Michael Erle, der in seinem bürgerlichen Leben Michael Höppner heißt, und sein Geld sonst als Musiker, PR-Profi und Journalist verdient, hat schon früher Bücher geschrieben, allerdings beherrschten darin keine KI-gesteuerten Produktionsketten das Geschehen, sondern Drachen und schwerterschwingende Recken. Der frischgebackene Vater ist begeisterter Rollenspieler. Dass frühe literarische Werke wie "Schwert und Schelm" inzwischen vergriffen sind, grämt ihn nicht: "Meine neuen Bücher sind besser."

Erle hat sich für seinen Neustart als Schriftsteller ein besonders anspruchsvolles Genre ausgesucht, denn hier gilt es die schwierige Balance zwischen Relevanz, Glaubwürdigkeit und Spannung zu halten. Da stürzen viele Autoren ab. Erle nicht, aber ein bisschen wackelt er schon. Seine dystopische Welt muss er ja erst einmal designen und erklären: Wie funktioniert die Energieversorgung? Woher kommt das Essen? Wie kann man unterirdisch überhaupt etwas anbauen und produzieren? Das alles ist hochkomplex, viel komplexer als der Autor selbst zuerst dachte. "Ich erinnere mich noch, wie schwierig das ist, allein in Dachau einen Keller trocken zu halten", sagt er und lacht. So muss man sich notgedrungen immer wieder durch technische Erläuterungen hangeln, die das Buch manchmal etwas in die Länge ziehen. Umso lebendiger und witziger sind seine Betrachtungen der Gesellschaft.

Der Titel des neuen Bandes "Die verlorenen Söhne" verweist auf einen Aufruhr der muslimischen Bürger Freiburgs. Allem Anschein nach gebären deren Frauen seit Monaten nur noch Töchter, aber keine Söhne mehr. Hat es etwas mit der Nahrung zu tun, die ihnen das voll automatisierte System der Stadt zuweist? Während Etienne mit dem attraktiven, aber zwielichtigen Schönling Sayid herumturtelt und mit Nawalny, dem Freund ihrer besten Freundin, versucht, Unregelmäßigkeiten der "Dark Factory", einer KI-gesteuerten unterirdischen Produktionsmaschinerie auf den Grund zu gehen, heizt sich die Stimmung in der Stadtgesellschaft gefährlich auf - gefährlich vor allem für Etienne.

Die Handlung spielt in einer Zeit, in der unsere Gegenwart zumindest noch als nostalgische Reminiszenz existiert. Etiennes Mutter heißt Miley - eine Reverenz an Miley Cyrus, Popstar und Jugendidol des ganz frühen 21. Jahrhunderts. Die Reichen schmücken sich mit der Technik der untergegangenen Welt: ein Auto mit Verbrennungsmotor - toll! - und ein programmierbarer Küchengerät, das die Leute früher wahnsinnig fortschrittlich fanden, höchstwahrscheinlich ein Thermomix-Gerät. Diese originellen Details tragen wesentlich zum Lesespaß bei. Zu Freiburgs registrierten Glaubensgemeinschaft gehören neben Christen und Muslimen auch die Pastafari (Anhänger des Fliegenden Spaghettimonsters) und die krude Verschwörungssekte QAnon.

Es hat seinen Grund, dass der Autor die Geschichte ausgerechnet in dem historischen Grenzgebiet Deutschlands zu Frankreich angesiedelt hat. "Das Rheintal hat für mich eine Brückenfunktion", sagt Erle, der selbst in Karlsruhe studiert hat. Es ist ein Ort, an dem unterschiedliche Menschen friedlich zusammenleben und sich gegenseitig inspirieren. Erles Dystopie hat auch ein utopische Hintergrundleuchten.

Doch Fake News gefährden diese Lebens- und Überlebensgemeinschaft, indem sie durch Hetze und Halbwahrheiten einer Entsolidarisierung- und Radikalisierung Vorschub leisten. Das erzählt dieser Band anschaulich. Weil Erle im Grunde seines Herzens Optimist ist, geben die Menschen in der kleinen Freiburger Welt auch gründlich recherchierten Fakten noch eine Chance; da sieht man, wie wichtig guter Journalismus ist. Und so übermächtig wie manche fürchten, ist die künstliche Intelligenz auch in Erles erdachter Zukunft nicht. In ihren automatisch generierten Nachrichten taucht immer wieder das Wort "Asphaltkaries" auf. Die künstliche Intelligenz merkt nicht mal, was für ein Blödsinn das ist.

Michael Erle: Sturm über dem Rheintal. Band 2: Die verlorenen Söhne. Eridanus Verlag 2020, 257 Seiten, Taschenbuch 14,90 Euro, Kindle 4,99 Euro.

© SZ vom 31.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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