Lesung:Träume und Gräuel

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Michael Lerchenberg über die "Revolution in Baiern"

Von Dorothea Friedrich, Odelzhausen

Sowjet-Bayern? Rote Garden? Was klingt wie die Vision eines Betonkopfes der untergegangenen UdSSR oder DDR war vor genau einhundert Jahren Realität im weißblauen Kosmos: Es war "Revolution in Baiern". Dieser lange ins zeithistorische Abseits verbannten Zeit widmet sich der engagierte Theatermensch Michael Lerchenberg in seinem neuesten Programm. Er erinnert damit an die Träume und Gräuel der Revolution von 1918/19. Am Freitag war Vorpremiere in der Malztenne der Schlosswirtschaft Odelzhausen, organisiert von der Initiative Kult A 8.

Hat Lerchenberg damit einen Bogen zur aktuellen politischen Situation kurz vor der Landtagswahl schlagen wollen? Nein, sagt Lerchenberg. Das Thema hat er "immer begleitet, es hat mich nie losgelassen". Ein Jahr habe er in die Vorbereitungen gesteckt, habe mit der umwerfenden "Revolutionskapelle" die Songs entwickelt und habe auch Biografisches verarbeitet. Wie das? "Meine Großeltern waren Augenzeugen", sagte Lerchenberg. Sie finden in diesem kunstvoll, leidenschaftlich und kenntnisreich gesponnen Gewebe von Geschichten, die Geschichte erst lebendig machen, ebenso ihren Platz wie die Stimmen von Künstlern, Literaten, bekannten und unbekannten Frauen, Anarchisten, Reformern, Revolutionären und aufrechten Kolpingburschen, widerlichen Freikorps-Anführern, Wegbereitern des Nationalsozialismus oder bekennenden Antisemiten. Für sie war diese Zeit vom Hungerwinter 1917/18 und den Demonstrationen kriegsmüder Frauen bis zur Schlacht von Dachau im April 1919, dem rachelüsternen Wüten der Freikorps, der Weißen Garden und dem bitteren Ende aller Träume je nach Standpunkt ein "Literatenputsch", eine "Strizzi-Republik", eine "Regierung von Jehovas Zorn" (Kardinal Michael von Faulhaber), eine "Scheinräterepublik oder ein "Wintermärchen".

Folgt man Lerchenberg und der Revolutionskapelle auf den wohl selbst für Experten verwirrenden Spuren von Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräten, von Rotarmisten und Weißgardisten, von SPD und Unabhängigen Sozialdemokraten (USDP), läuft es einem immer wieder kalt den Rücken herunter. Thomas Manns judenfeindliche Ausbrüche, Erich Mühsams "Rätemarseillaise" oder seine minutiöse Schilderung des Endes der Monarchie graben sich ins Hirn ein. Die überlieferten Histörchen aus dem Hause Wittelsbach klingen zunächst amüsant, werfen aber ein grelles Licht auf royale Befindlichkeiten und hoheitsvolle Missachtung der Realität. So soll Königin Marie Therese vor ihrer Absetzung wohlfrisiert zu Bett gegangen sein, um im Fall des Falles den Aufrührern in aller Würde entgegen treten zu können.

Wie es bei den unzähligen Versammlungen am anderen Ende der sozialen Leiter zuging, hat wohl niemand treffender geschildert als Oskar Maria Graf. Man quetscht sich förmlich mit ihm in stickige Wirtshaussäle, rennt mit ihm durch Münchens Straßen und hört fassungslos den rechten Einflüstern auf dem Lande zu. Ein mehr als unbehagliches Gefühl macht sich breit, wenn Lerchenberg die seinerzeit kübelweise ausgeschütteten Hetzereien und üblen Intrigen mit immer wieder wechselnder Stimme ans Licht zerrt. Gleichen sie doch fatal so manchen aktuellen Fake News, Verunglimpfungen und Diffamierungen. Der Gegenwind bläst den Revolutionären immer stärker ins Gesicht. Ministerpräsident Kurt Eisner verliert die erste Nationalratswahl am 12. Januar 1919. Er wird am 21. Februar 1919 ermordet. Die zweite Räterepublik hat keine Chance mehr, auch wenn sie unter Führung des Pazifisten und Schriftstellers Ernst Toller zunächst die Schlacht von Dachau am 16. April 1919 gewinnt.

Lerchenberg, in Dachau geboren, lässt Zeitzeugen lebendig werden, lässt die namenlosen Frauen zu Wort kommen, die endlich Frieden wollen. Die Ereignisse überschlagen sich. Die Hoffnung auf Frieden ist vergeblich. Lerchenberg und die Revolutionskapelle schonen ihr Publikum nicht. Das lässt sich von der Intensität, mit der Simone Lautenschlager (Klarinette), Ferdinand Schramm (Trompete), Martin Holzapfel (Tuba), Sabrina Walter (Harfe) und Lerchenberg selbst Schlaglichter auf große Visionen einer gerechteren Welt und kleinliches politisches Kalkül, auf Humanität und Grausamkeiten ohne Ende werfen, immer wieder mitreißen. Und stellt sich der Frage: Was bleibt von der bayerischen Revolution? Lerchenbergs Antwort: "Seit hundert Jahren hat die Politik einen Linkskomplex und ist nach wie vor auf dem rechten Auge blind."

© SZ vom 15.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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