Lesung:Die Überlebenskünstler

Lesezeit: 3 min

Veit Johannes Schmidinger erzählt in der Stadtbücherei über die Schicksale von Literaten und Malern, die vor den Nationalsozialisten ins belgische Exil flohen. Und erinnert so daran, was bei den aktuellen Debatten übers Asylrecht eigentlich auf dem Spiel steht

Von Anna-Elisa Jakob, Dachau

Wie groß ist die Macht der Kunst? Wie viel kann sie verändern? "Der verhinderte Maler Adolf Hitler und der Germanist Joseph Goebbels erkannten den Wert von Kunst und Kultur für die Verwirklichung ihrer Ziele", resümiert der Autor Veit Johannes Schmidinger, er liest aus seinem Buch "Transit Belgien", das die Geschichten deutscher Künstler im belgischen Exil erzählt. Warum sich der Autor einzig mit Künstlern beschäftigte, wird an den Stellen verständlich, an denen er ein Bild des Künstlers Felix Nussbaum analysiert oder ein Zitat von Klaus Mann einbindet, wenn er die Historie durch die Symbolkraft der Kunst mit Leben füllt. Schmidinger erklärt, dass Künstler im Dritten Reich gefährdeter als andere Berufsgruppen waren. "Ich sehe sie als Vermittler und das in doppelter Rolle: den Belgiern zeigten sie ihre 'deutschen' Werke und den Deutschen zeigten sie später ihren Blick auf Belgien."

Germanist und Kunsthistoriker Veit Johannes Schmidinger beleuchtet ein Kapitel der Exilforschung, das bislang weitgehend außer Acht gelassen wurde. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Schmidinger sitzt an diesem Abend auf einer kleinen Bühne, in einem Raum der Stadtbibliothek Dachau, das Publikum zwischen den Bücherregalen. Hinter ihm erscheint ein Bild der Bücherverbrennung in Berlin, es ist der 10. Mai 1933. Schmidinger erinnert daran, wie Bibliotheken, Museen, Theater die Werke der Künstler aus ihren Regalen, Ausstellungen, Bühnen verbannten. Die Nationalsozialisten schufen eine "Reichskulturkammer", um zu kontrollieren, dass allein "arische" Werke der Öffentlichkeit präsentiert würden. Andere Kunst - von jüdischen, linken, pazifistischen Künstlern sowie expressionistische, surrealistische, abstrakte Arbeiten - galt als "entartet". Unter der deutschen Bevölkerung und den Kreisen von Kunst und Kultur wurde diese Beschränkung hingenommen, Widerstand gab es nicht.

Was sollten die Künstler tun? In ihrer Heimat bleiben, für die Nationalsozialisten arbeiten, heimlich weiter malen oder schreiben? Viele entschieden sich für das Exil, die meisten allerdings erst, als eine konkrete Gefahrensituation bevorstand. Zwei Koffer wurden gepackt, hastig, als würde man nur kurz in den Urlaub fahren. Das Wort "Flüchtling" war negativ belastet, klang nach Armut, politischem Extremismus. Jean Améry und seine Frau zahlten einem Schmuggler 400 Reichsmark, um nach Belgien zu gelangen. Felix Nussbaum täuschte den Behörden jahrelang vor, er würde sich in Belgien nur zum Studium flämischer Malerei aufhalten. Schmidinger zitiert den Schriftsteller Klaus Mann: "In dieser Welt der Nationalstaaten und des Nationalismus ist ein Mann ohne Nation, ein Staatenloser, übel dran. Er hat Unannehmlichkeiten; die Behörden des Gastlandes behandeln ihn mit Misstrauen; er wird schikaniert." Und weiter: "Wer sollte sich eines Verbannten annehmen? Welche Instanz verteidigt sein Recht?" Zu Beginn seiner Lesung erklärt Schmidinger, warum ihn die Schicksale und die Lebenssituation der Künstler im Exil gerade heute so sehr beschäftigen. Die Begriffe Flüchtlinge, Verfolgung, Fluchtroute, Aufenthaltsrecht, Abschiebung - seit rund vier Jahren zirkulieren um sie zentrale politische und gesellschaftliche Fragen. Es gibt Angst vor Überfremdung, Gewalt, das Erstarken einer rechten Partei. Schmidinger dreht den Diskurs um, verändert den Blickwinkel: Wie erging es damals denjenigen, die aus Deutschland fliehen mussten? Wie wurden sie in der Fremde empfangen? Mit welchen Problemen hatten sie zu kämpfen? Zuletzt erinnert er an Herta Fuchs, eine Schriftstellerin, deren Roman "Die Sterne verlöschen nicht" aus den Fünfzigerjahren kaum Beachtung in der Öffentlichkeit fand und bislang nur in Rumänien erschienen ist. Für Schmidinger ist ihr Werk die "wohl bedeutsamste literarische Verarbeitung des deutschsprachigen Exils in Belgien". Nachdem die Wehrmacht Belgien besetzt hatte und Herta Fuchs kein Visum für ein anderes Land erhielt, verbrannte sie ihre Papiere, ihren Ausweis und zog als Namenlose von einem Ort zum nächsten. Ein Leben als "U-Boot", nannte sie es. In Belgien versuchte sie, in einer Widerstandsbewegung Flugblätter an deutsche Soldaten zu verteilen, das System so von innen zu bekämpfen. Fuchs wurde verhaftet und nach Auschwitz deportiert - sie überlebte das Konzentrationslager, schrieb nach dem Krieg ihre Autobiografie.

Anders als Felix Nussbaum, der Künstler wurde im KZ Auschwitz ermordet. Eines seiner bekanntesten Selbstporträts beschließt das Ende der Lesung: Felix Nussbaum steht vor einer dunkelgrauen Mauer, trägt einen Mantel mit hochgeschlagenem Kragen und Judenstern auf der Brust, in der Hand hält er einen "Judenpass". Die Augen weit aufgerissen, der Blick gehetzt, die Lippen zusammengekniffen. Ein Flüchtling, ein großer Künstler. Hätten wir ihn aufgenommen? Versteckt, wie es seine belgischen Freunde versuchten? Oder hätte uns sein Schicksal nicht interessiert? Mit diesen Fragen entlässt der Autor an diesem Abend sein Publikum.

© SZ vom 23.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: