KZ-Gedenkstätte :Zweimal geboren

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Der KZ-Überlebende János Forgács erzählt seine Lebensgeschichte in der Dachauer Gedenkstätte. (Foto: Toni Heigl)

Zeitzeugengespräch mit János Forgács

Von Anca Miruna Dunga, Dachau

Als János Forgács im Frühsommer 1945 in Mittenwald in eine Kleiderkammer geführt wird, um die verlauste KZ-Häftlingsuniform abzulegen, findet er keine zivile Kleidung. Der Krieg ist gerade einmal wenige Wochen aus, Hosen und Hemden sind Mangelware. Kurzerhand schnappt er sich eine SS-Uniform vom Kleiderhaken und zieht sie an. Ein ungarischer Jude, ehemaliger Auschwitz und Dachauer Lagerinsasse, gekleidet in der Uniform eines ranghohen SS-Offiziers spaziert auf den Straßen von Mittenwald! Obwohl stark abgemagert, wird er von US-Soldaten für ein Nazi gehalten und auf einem Jeep mitgenommen. Sie bringen ihn zu einem Sammelplatz auf einer Wiese mit weiteren Deutschen, die auf ihren Abtransport in ein Arbeitslager warten. Kurz vor dem Abtransport schafft er es, die Amerikaner vom Missverständnis zu überzeugen.

Es sind Geschichten wie diese, die in einem Film über das Dritte Reich vermutlich nie Platz finden würden, weil sie viel zu absurd erscheinen. Kurz nach dem Krieg ist das aber die Realität: chaotisch, verworren, grotesk. Lachen und weinen zugleich will der Zuhörer im Besucherzentrum der KZ-Gedenkstätte Dachau, als er den Erzählungen von János Forgács folgt. 50 Besucher sind gekommen, um dem 88-Jährigen zuzuhören. Und dieser erzählt von den grausamsten Dingen, die sich vor seinen Augen zugetragen haben, in einem ruhigen, manchmal sogar ironischen Ton.

Im ungarischen Städtchen Gödöllö, nur 30 Kilometer entfernt von Budapest, kommt Forgács 1928 als drittes von vier Kindern zur Welt. Seine Eltern sind Juden, seine Freunde sind überwiegend Christen. Antisemitismus kennt er damals noch nicht. Eine unbeschwerte und glückliche Kindheit habe er gehabt, erzählt er. Die jäh eine Ende findet, als Hitler Mitte März 1944 Ungarn besetzt. Damals ist er 16 Jahre alt und hat gerade seine Ausbildung als Schuster beendet. Seine älteren Brüder müssen in ein Arbeitslager. Im Juni 1944 werden er, sein elfjähriger Bruder und seine Eltern mit Viehwaggons nach Auschwitz deportiert. Man sagt ihnen, dass sie im Deutschen Reich als Arbeitskräfte eingesetzt werden. Bereits am Bahnhof in Gödöllö begreifen sie, dass die Fahrt kein gutes Ende nehmen wird. Ein kranker Mann auf einer Trage wird vor den Augen aller erschossen und liegen gelassen.

Forgács steht vor Dr. Mengele an der Selektionsrampe. Sein Vater und er werden als arbeitsfähig eingestuft, seine Mutter und sein Bruder kommen in der Gaskammer um, wie er später erfährt. Keinen von den Drei wird er jemals wieder sehen. Immer wieder entkommt er nur knapp dem Tode. Um die Häftlinge zu demütigen, müssen sie stundenlang vor dem Essen ausharren, ohne es anrühren zu dürfen. Forgás hält es nicht aus, schiebt sich einen Löffel Suppe in den Mund. Der SS-Offizier hält ihm die Waffe an den Kopf - und drückt doch nicht ab. Stattdessen schlägt er den 16-Jährigen blutig mit dem Napf.

Am 18. Januar, kurz bevor die Rote Armee Auschwitz erreicht und befreit, wird er in Viehwaggons nach Dachau gebracht. Er kommt ins Hauptlager, muss sich einen Schlafplatz in den völlig überfüllten Baracken suchen. "In Dachau gab es vorab keine Selektion durch Menschenhand. Läuse und Flöhe sorgten für eine natürliche Selektion", erzählt Forgács trocken. Viele der entkräfteten Häftlinge sterben in den letzten Wochen vor Kriegsende an Flecktyphus und Durchfall bedingt durch Ungezieferstiche.

Die Befreiung durch die Amerikaner erlebt János Forgács auf seinem Todesmarsch nach Tirol. Bei Garmisch-Partenkirchen übernachten er und weitere Häftlinge in einem Viehstall auf einer Alm. Draußen liegt noch Schnee. Als sie am nächsten Morgen im Tal die amerikanischen Soldaten in ihren Jeeps sehen, rutschen sie bäuchlings den Abhang hinunter. Es ist der 1. Mai. "Dieser Tag ist für mich mein zweiter Geburtstag", sagt János Forgács und schließt dabei für eine Weile die Augen.

Im September 1945 schafft er es, mit mehreren Zügen Ungarn zu erreichen. Von den 42 Familienmitgliedern haben 14 das letzte Jahr überlebt. In Gödöllö treffen schließlich auch seine zwei älteren Brüder ein. Zunächst arbeitet Forgács als Schuster, im Kommunismus darf er sein Abitur nachholen und Ingenieurswissenschaften studieren. Er heiratet eine Ungarin, gemeinsam haben sie eine Tochter. "Mein Leben war erfüllt, vergessen habe ich nie!" Seit mehr als 20 Jahren arbeitet János Forgács als Zeitzeuge, besucht Schulen und Gedenkstätten. Ruhig, nie anklagend, jedoch eindringlich.

© SZ vom 19.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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