Langsam schälen sich die Zimmer aus der Fassade des Hauses. Ein knallrotes Treppenhaus sieht man schon, eine Stehlampe zeichnet sich ab, ein altmodisches, gemütlich aussehendes Bett, knuffige Polstersessel, eine Badewanne auf Füßen in einem ockergelb gekachelten Badezimmer. Jetzt kommen die Fugen dran.
Esther Zahel zieht mit dem Pinsel weiße Linien über die Wand. Die 29-Jährige steht auf einem Baugerüst, ganz oben, mit türkis lackierten Fußnägeln und einer roten Küchenschürze um den Bauch, winzige Schweißperlen am Hals. Es ist extrem heiß an diesem Tag. Zum Glück steht sie im Schatten, die Frontseite der Dachauer Postbank ist von Bäumen eingewachsen. Von der Bahnhofstraße aus sieht man nur Ausschnitte des gewaltigen Werks, das Esther Zahel gerade erschafft auf schätzungsweise 140 Quadratmetern Fläche. "Vor dieser Größe hat man schon Respekt", sagt sie und lacht. Manchmalwerfen Passanten einen Blick zu ihr herauf, wundern sich vielleicht, dass sie durch ein offenes Fenster in das Postbankgebäude klettert, um sich frisches Wasser zu holen.
Das bemalte Haus ist der erste, bereits sichtbare Teil der Freiluftausstellung "Raus", welche die Künstlervereinigung Dachau (KVD) in diesem Jahr zu ihrem 100-jährigen Bestehen auf die Beine stellt. Das ist eine hübsche Idee, die modern und doch irgendwie traditionsbewusst ist, schließlich gingen die Künstler um die Jahrhundertwende auch nach draußen in die freie Natur, um zu malen. Eigentlich startet "Raus" offiziell erst am 4. August. "Aber wir haben einige Projekte, die man erstmal organisieren muss und die auch einen Vorlauf brauchen", sagt Johannes Karl, der Vorsitzende der Künstlervereinigung. Zum Thema "Raus" passt das riesige Fassadenkunstwerk nicht nur, weil es im öffentlichen Raum steht, sondern weil es die erdachten Zimmer des Hauses nach außen projiziert. "Inside out" heißt die Arbeit. Erst in diesem Jahr hat Esther Zahel ihre Diplomarbeit abgegeben: Aus Leinwänden baute sie ein Häuschen, in das man hineinschlüpfen kann, innen hat sie die Leinwände bemalt. Ein begehbares Bild sozusagen. Was sie jetzt macht, ist, wenn man so will, bewohnbare Kunst und eine logische Fortsetzung ihres künstlerischen Konzepts. "Ich versuche, Malerei ins Dreidimensionale zu holen", sagt die bei Erding lebende Künstlerin.
Dass sie ihr erstes großes Vorzeigeprojekt nun in Dachau gestaltet, hat sie Anna Dietze zu verdanken. Die beiden kennen sich vom Studium an der Akademie der Bildenden Künste in München. Anna Dietze hat im Juni ihren Einstand in der KVD mit einer Ausstellung gefeiert. Beide sind Künstlerinnen mit einem frischen Blick und großer Gestaltungskraft, wenn auch mit ganz unterschiedlichen Ideen und Ansätzen. Esther Zahel lässt dem Intuitiven viel Raum, sie erlaubt sich Abweichungen von ihren Arbeitsskizzen, kreiert Wasserhähne, bei deren Anblick jeder Installateur die Stirn runzeln würde.
"Ich male aus der Vorstellung", sagt sie. "Da können sich schon mal Fehler einschleichen."
Wobei "Fehler" hier vielleicht das falsche Wort ist. Erst durch den Bruch der Norm, erzielt Kunst eine Ästhetik, die über die Wirklichkeit hinausreicht und etwas Neues schafft. Esther Zahel sieht sich eigentlich auch eher als abstrakte Künstlerin. Die Möbel: "ein Formgeber, der mir Halt gibt", der Farben flächig strukturiert.
Aber warum sieht man auf "Inside out" keine Menschen? Esther Zahel überlegt kurz. "Die Leute sind alle ausgeflogen", sagt sie. Und wer weiß, vielleicht sehe man ja eines Tages mal Leute in den Räumen. Zwingend notwendig ist das nicht. "Räume haben ein Eigenleben", sagt die Künstlerin, und diese Räume porträtiert sie und bestückt sie mit Mobiliar, wie man es von Flohmärkten kennt. "Ich mag ältere Gegenstände mit einer eigenen Geschichte." Sogar Bilder, die sie früher schon einmal gemalt hat, integriert Zahel in ihr Wandgemälde, so auch das Motiv des Badezimmers. "Ich wusste, dass die Fliesen wieder gelb werden", sagt sie. Hier hat die Farbe ihr Zuhause. Um ihr riesiges Bild zu vollenden, hat Esther Zahel noch zwei Wochen Zeit. Dann wird das Gerüst wieder abgebaut. Ganz enthüllt wird es im Herbst, wenn die Blätter fallen.